Feen 2: alle (bis auf Ohnfeder) nähern sich einem Ort

Montag, 15. September 2014, 13:35
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Seine Unterkunft war weniger gemütlich als beim letzten Mal. Nachdem er sich unerwartet schnell aus dem Haus Upajano hatte verabschieden müssen, konnte er dort schlecht nach zwei Wochen plötzlich wieder auftauchen, zwei Wochen, in denen er tot in irgendeinen Bordstein hätte liegen können. Und wenn es nach der Dame des Hauses ging, wäre es vermutlich das, was sie sich für ihn wünschte. Die wenigsten Frauen konnten gut damit umgehen, mit einem Mann das Bett zu teilen, der sich anschließend heimlich davon stahl.

Deswegen hatte Enk sein Lager jetzt in dem Keller einer anderen Villa aufgeschlagen. Den Weg dorthin hatte er früh auf einem seiner ersten Aufträge in Imanahm gefunden. Er selbst war zu einem guten Teil dafür verantwortlich, dass das Haus über diesem Keller in einem so schlechten Zustand war. Vermutlich, wenn der Hausherr und seine Geliebte nicht einem überraschenden gemeinsamen Selbstmord zum Opfer gefallen wären. Der einzige Sohn lebte noch in den kalten Räumen über der Erde, ein alter Diener hielt, wenigstens in seinen eigenen Augen, den Schein aufrecht, dass es noch ein anständiges Haus war.

Die großen Vorteile dieses Verstecks waren, dass nicht nur der Eingang gut verborgen in einem Hinterhof lag, sondern die Hausbewohner ungewöhnlich abergläubisch waren. Jedes Geräusch, das er machen würde, würden sie den Hausgeistern zuschreiben.

Allerdings hielt er sich kaum in dem Keller auf, denn die Suche nach Estron nahm all die Zeit in Anspruch, die er nicht damit verbrachte, seine Bestände wieder aufzufüllen. Er hatte in letzter Zeit seine Truhe zu oft geplündert, ohne sie nachfüllen zu können. Und ohne die Verkleidungen, die er regelmäßig aus ihr hervorzog, war es denkbar schwer, unerkannt zu bleiben. Nicht, dass ihm gegenüber Estron eine Verkleidung helfen würde. Der Keinhäuser hatte ihn erkannt, Enk war sich ganz sicher. Es war nur ein kleines Aufflackern gewesen, dass er in den Augen des anderen hatte sehen können, als sich ihre Blicke für den Bruchteil eines Herzschlags trafen. Dann hatte Estron wieder auf die Straße geachtet und ihm, in seiner Bauernverkleidung keine weitere Beachtung geschenkt. Aber Enk wusste es. Und es bestand kein Zweifel, dass Estron auch wusste, dass Enk es wusste. Estron war schon immer unangenehm aufmerksam gewesen.

Er würde ihn also aus der Entfernung beobachten. Dazu musste er ihn allerdings erst einmal finden. Und das stellte sich als das erste Problem heraus: Enk konnte sich nicht einmal ganz sicher sein, dass sich der Gesuchte überhaupt noch in der Stadt befand. Vielleicht war er einfach nur hindurch gereist oder hatte die Stadt gleich links liegen lassen. Deswegen hatte er sich bereits einen der anderen Karawanenreisenden auserkoren, den er zum Reden bringen würde.

So begann sein Tag in der einfachsten Verkleidung, die er hatte finden können und endete mit drei Perücken, fünf Jacken, mehreren Paar Schuhen, verschiedenen anderen Utensilien und dem Wissen, dass Estron zumindest die Stadt betreten hatte. Fast alles hatte er gestohlen, manches von Marktständen, einiges direkt aus Häusern, ein paar Sachen aus den Taschen von Menschen, an denen er vorbeigekommen war. Es war riskant so viel an einem Tag zu stehlen, er hatte jedoch keine andere Wahl, wenn er die Spur nicht verlieren wollte. Und nach der Information hatte er nur zu fragen brauchen. Kleine, unauffällige Fragen, eine nach der anderen und zwei Ohren, die zwischen den Worten hörten. Ein paar klingende Münzen, investiert in etwas Essen und etwas mehr zu trinken, halfen natürlich dabei, die Zunge zu lockern.

Estron war in die Stadt gekommen und er war nicht allein. Nach allem, was Enk erfahren hatte, hatte er inzwischen Schüler, was zu dem passte, wie er sich Estrons weiteres Leben vorgestellt hatte. Ein Weiser Lehrer, eine Rolle, die ihm stand. Ein Chuor und ein weiterer Mensch vervollständigten anscheinend seine kleine Gruppe. Wer konnte ahnen, wo er die beiden aufgelesen hatte.

Enk hoffte, dass er in keinen Konflikt mit Estrons Gefolge geraten würde. Vor allem der Chuor konnte ihm Schwierigkeiten bereiten. Sie waren schnell und stark und ihre Nasen waren so gut, dass es schwer werden würde, sich ihnen unbemerkt zu nähern. Er hatte großen Respekt vor den Chuor. So kraftvoll und ausdauernd sie allerdings auch kämpfen mochten, im Prinzip stellte ihre primitive Art der Waffenführung und ihre oft allzu kraftvolle Kampfweise kein Problem für ihn dar. Er hatte schon mehrere von ihnen, einzeln oder auch in Gruppen, getötet, denn sie wurden gerne in den südlichen Städten als Wachen eingesetzt. Einige hatte er vergiftet oder aus dem Hinterhalt ermordet. Mit anderen hatte er sich im Kampf messen müssen. Es waren ungleiche Kämpfe gewesen. Nach den ersten Hieben waren sie ihm mehr oder weniger ins Schwert gelaufen. Nicht, dass er sich über leichte Siege beschweren wollte, dennoch empfand er es als Verschwendung, wenn er mutige und treue Wachen umbringen musste, aus keinem anderen Grund, um näher an sein Ziel zu kommen. Bei diesem Gedanken stutzte er. Er hatte gewiss doppelt so viele menschliche wie Chuor-Wachen getötet und empfand nur für die Wolfsmenschen dieses Bedauern.

Er atmete tief durch.

Einen der Schüler hatte er vermutlich mit Estron gesehen und er war wenig beeindruckt von ihm gewesen. Man sollte natürlich niemanden unterschätzen, sein Gefühl sagte ihm jedoch, dass sie kein Problem darstellen würden.

Blieb noch der andere Mensch, der mit Estron reiste. Er war ein Rätsel. Gegenüber den anderen Reisenden hatte er seinen Namen nicht genannt, dennoch war er sehr beliebt gewesen. Er hatte alle mit seinen phantastischen Geschichten unterhalten. Unmögliche Geschichten, die aber mit so viel Ernsthaftigkeit vorgetragen wurden, dass man sich von ihnen gefangen nehmen ließ, bevor er sie mit einem Scherz beendete oder ihren Sinn verkehrte. Er hatte die Reise für alle angenehmer gemacht.

Aber nicht nur durch seine Geschichten und seine Fröhlichkeit war er nahezu allen aufgefallen. Irgendetwas hatte er an sich gehabt, dass ihn immer anders erscheinen ließ. ‚Anders‘, so hatte sich der Mann ausgedrückt, hatte Enk aber nicht erklären können, was er damit meinte.

Enk lebte noch, weil er aufmerksam beobachtete und mit klaren Gedanken seinem Weg folgte. Dennoch war er nur in Imanahm, weil er einer Intuition gefolgt war. Er war Gerüchten über Estron gefolgt, obwohl er den Feen Shaljel suchte, weil er gespürt hatte, dass Estron mit ihm in Verbindung stand. Jetzt spürte er etwas ähnliches, was den fremden Mann anging. Seine klaren Gedanken warnten ihn jedoch davor, sich zu sehr auf sine Intuition zu verlassen, auch wenn er ihr soweit folgen wollte, dass er den Mann mit Vorsicht behandelte.

 

Der nächste Tag sah ihn auf einem Dach oberhalb des Marktplatzes liegen. Er hatte sich mehrere Decken mit heraufgenommen. Es war nicht seine Gewohnheit, sich mit solchen Dingen zu belasten, aber die Kälte wurde langsam unangenehm und ohne die Decken hätte er es vermutlich keinen Gongschlag durchgehalten. Der große Marktplatz war das Zentrum Imanahms und er ging davon aus, dass früher oder später jeder ihn aufsuchen würde. Estron kannte er, von dessen Freunden hatte er Beschreibungen, auch wenn sie recht vage waren. Aber die Tätowierungen seiner Schüler sollten auffällig genug sein. Diesen Tag würde er warten und beobachten. Wenn sich nichts ergab würde er morgen weitere Erkundigungen einholen. Vielleicht verlor er auf diese Weise die Spur, vielleicht entkam ihm Estron auf auch, weil Enk es einen Tag ruhig angehen ließ, vielleicht war es nicht klug, so vorzugehen. Aber heute würde er beobachten und sehen, wer sich sonst noch in der Stadt aufhielt.



Feen 2: Shaljel kommt zurück

Samstag, 13. September 2014, 22:16
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Shaljel brauchte nur an die Tür zu klopfen und schon wurde sie ihm von einem der Hausdiener geöffnet. Er war es gewöhnt, für sich selbst zu sorgen, aber anders als Estron hatte er kein Problem damit, wenn ihm jemand das Leben angenehmer machte. So war es nicht immer gewesen, aber er lebte jetzt lange genug, um verstanden zu haben, dass man auch die angenehmen Dinge annehmen können musste. Und vor allem war er, gemessen an anderen Feen, verrückt genug, dass er diese Lektion auch nicht vergaß.

„Hast du ihn getroffen?“ Estron erschien im Türrahmen des Raums, der derzeit als Speisesaal diente, wohl aber auch für Empfänge und andere Feste verwendet wurde.

Shaljel ging auf ihn zu: „Ja. Ist ein misstrauischer Bursche. Aber wer kann es ihm verdenken.“

„Können sie für uns gefährlich werden?“

„Estron! Ich finde, du könntest ein wenig mehr Mitgefühl haben. Er hat Angst. Ich bin nicht sicher, was er durchgemacht hat, aber er hat noch einen Faden zu einem anderen Magier.“

„Du hast den Faden letztes Mal schon erwähnt, aber was hat es damit auf sich? Wenn ich es richtig verstanden habe, hinterlässt er eine Spur, der andere Magier folgen könnten, aber das tun wir doch alle.“

„Nicht solche. Und ich würde behaupten, dass nur du und ich die meisten anderen verfolgen können.“

„Und was ist an seiner Spur besonderes?“

„Es hängt auch am anderen Ende jemand dran.“

„Weist du wer?“

„Nun, es ist kein Verwandter.“

„Kann jeder mit sowas verbunden sein?“

„Nein, nur zwei Magier seiner Art. Du weißt, die anderen Magier. Die, die die Magie aus sich selbst holen.“

„Diejenigen, die man so selten findet? Ich glaube, dass ich niemals einem begegnet bin.“

„Die Drachen haben alles getan, um sie zu vernichten.“ Shaljel wurde ungewohnt grimmig. „Ich habe versucht, so viele zu retten, wie ich konnte, aber, naja, ich bin alleine und sie sind ziemlich viele.“

„Du bist nicht mehr alleine. Ich glaube, du warst es nie. Aber darum machen wir diese Sache hier ja überhaupt.“ Shaljel nickte und seine Stimmung hellte sich wieder auf, um bei der nächsten Frage gleich wieder finsterer zu werden. „Es gibt also noch einen zweiten dieser Magier? Und sie sind verbunden? Ich frage also noch Mal, auch wenn es herzlos ist: Können sie uns gefährlich werden? Und du weißt, was ich meine.“

„Es sieht so aus, als wenn wir damit rechnen müssen … ich meine, es sieht so aus, als wenn es sein könnte, dass er von einem Magier verfolgt wird.“

Estron nickte stumm.

„Ich habe ihm empfohlen, dass er die Stadt verlassen soll. Und das meine ich ehrlich. Der Verfolger kommt mit jedem Tag näher und wenn sie den Faden nicht durchschneiden, dann kann er gar nicht anders, als sie zu finden.“

„Gut, dass wir jetzt wenigstens vorgewarnt sind. Wir sollten uns wohl von ihm fernhalten.“

„Ja, das wäre vermutlich besser.“ Shaljel bemerkte, dass Estron den unsicheren Ton in seiner Stimme gehört hatte und fügte schnell hinzu: „Außerdem ist er nicht allein.“

„Noch ein Magier?“

„Ja, beziehungsweise eine Magierin. Und außerdem ein Feenling.“

„Ein Feenling? Wirklich? Hier? Und das ist niemandem bisher aufgefallen?“

„Wie es aussieht, nicht. Ich weiß aber nicht, wie sie das angestellt haben. Ich konnte sie nicht sehen. Nur ihre Spur. Weil ich ja sowieso gerade nach seiner geguckt habe. Und dann konnte ich sie auch riechen. Ich weiß nicht, was sie vorhatten, sie hat sich aber irgendwo versteckt.“

„Ich kann mir kaum zwei Dinge vorstellen, die sie vorgehabt haben könnten.“

Shaljel sah Estron mit einem fragenden Blick an.

„Ist es nicht offensichtlich? Du hast den Jungen als das erkannt, was er war. Sie sind auf der Flucht. Sie haben Angst, dass du sie verraten könntest. Sie wollten dich vermutlich töten.“

Der Feen in Menschengestalt sah seinen Freund kritisch an. Er hätte es gerne abgestritten, von der guten Natur, die den Menschen inne wohnte, gesprochen. Aber leider kannte er die Menschen so lange, wie es sie gab, und wenn sie Angst hatten, verhielten sie sich immer noch genauso, wie am ersten Tag: dumm und unvernünftig.



Feen 2: Pethen und Hylei bekommen besuch.

Donnerstag, 11. September 2014, 18:39
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Der Abend war gekommen und mit ihm der seltsame Mann, der diesmal offen die Gasse heruntergeschlendert kam. Er schien sehr vergnügt zu sein und machte ab und zu einige hüpfende Schritte. Er schien sich keine Gedanken darüber zu machen, ob ihn jemand beobachtete. Pethen, der seine Sicht bis aufs äußerste in die Weite geschickt hatte, konnte allerdings niemanden entdecken, der um diese Zeit hier herumschlich, wenn er von dem Fremden sich selbst und Hylei absah. Der Feenling lag hinter einem Schornstein auf dem Dach einer Werkstatt. Der junge Mann wunderte sich, ob der Fremde tatsächlich sorglos war, oder genau wie er selbst wusste, dass niemand in der Nähe war. Warum auch nicht? Wenn er über so viel Macht verfügte wie Pethen glaubte, dann war eine Sicht wie die seine kaum außerhalb des Möglichen.

„Du hast noch nicht zu lange gewartet, oder?“

„Wer seid ihr?“

„Ah, ich sehe. Mein Freund hat mich gewarnt, dass ich mich nicht beliebt machen würde bei dir. Allerdings fürchte ich, wir sollten keine Namen austauschen. Sicherer, verstehst du?“

„Wie ihr wollt.“

„Und hör mit dem ‚Ihr‘ auf. Wir haben etwas gemeinsam. Mehr oder weniger. Tut mir leid, dass ich dich vorhin so lange beobachtet habe. Ich wollte einfach sehen, ob du mit deinem Drirelgli umgehen kannst oder nicht. Und ich bin froh, dass du keine Gefahr für die anderen darstellst.“ Der fremde sprach sehr schnell, als würde er über Belanglosigkeiten plaudern. Pethen musste sehr aufpassen, um in dem Wortschwall nicht verloren zu gehen.

„Ihr seid ein Magier, so viel sehe ich. Aber was wollt ihr von mir.“

Der Mann schüttelte den Kopf.

„Ich meinte das ernst mit dem ‚Ihr‘, aber wenn du es so willst. Nun gut. Allerdings dachte ich, ich hätte mich vorhin deutlich erklärt: Ich will euch helfen. Ihr seid so auffällig wie ein Bataga im Onrenstall, zumindest für mich und ihr habt einen Faden, der euch mit jemandem verbindet. Das kann jeder sehen, der darauf achtet. Selbst mein Freund hat es gesehen. Gut, das ist jetzt vielleicht kein Zeichen dafür, wie offensichtlich es ist, denn er scheint auf alles zu achten. Außerdem ist er etwas besonderes. Aber das seid ihr auch und ich bin der Meinung, man sollte sowas fördern. Es gibt nicht so viele wie euch und die Priester machen keinen Unterschied, ob ihr nun die eine oder die andere Form der Magie verwendet. Und ich kann euch versichern, dass ich schon lange ein großer Unterstützer aller Magier bin, auch wenn einige, schlichtgesagt – und entschuldigt meine Sprache – größenwahnsinnige Arschlöcher werden. Es wäre so viel einfacher, wenn nicht immer wieder solche Gewalttäter unter euch wären. Ich verstehe auch nicht, warum alle immer so gerne Sachen in Brand stecken, zersprengen, wegschwemmen, zerbrechen, verbiegen, wegwehen oder in der Erde versinken lassen. Es gibt so viel bessere Verwendungen für Magie. Ich meine, hat in den letzten Jahrhunderten irgendein Magier ein Feld erblühen lassen? Oder einen Kranken geheilt? Oder hat jemandem bei der Arbeit geholfen? Gut, sowas wie Fliegen halte ich persönlich für überbewertet, aber was ich meine ist, es wäre mal was anderes. Magie kann so viel Spaß machen, versteht ihr? Und sie kann so nützlich sein. Man muss sie nicht immer nur dazu verwenden, sich selbst zu schützen oder jemandem wehzutun. Ich gebe ja zu, dass es schon gut ist, wenn man sich selbst schützt, vor allem wenn man es mit den Priestern zu tun bekommt. Und hierbei meine ich vor allem die Priester der Menschen. Die meisten anderen sind eigentlich ganz in Ordnung. Aber versteht ihr, was ich meine?“

Der Fremde schien nicht das Bedürfnis zu verspüren, Luft zu holen. Der Wortschwall ließ Pethen entgeistert zurück und er reagierte zuerst gar nicht auf die Frage, bis sein Verstand die Worte eingeholt hatte und er letztendlich doch den Kopf schüttelte.

„Ich meine, wir müssen uns alle helfen. Und ich bin in der glücklichen Lage euch helfen zu können. Ihr seid zwar ein Vindrir, ein Geistmagier, wie es die Ra-ula nannten, aber ein paar Tipps kann ich euch schon geben. Sagt, was habt ihr denn bisher schon alles selbst gelernt? Ich meine, ihr scheint euch ganz gut unter Kontrolle zu haben, und das ist eine Erleichterung, denn ich habe schon andere Vindrir gesehen, die sich selbst den Kopf weggebrannt haben. Kein schöner Anblick. Gerade leuchten die Augen noch blau und plötzlich beginnt Rauch aus Mund und Ohren zu steigen. Und dann, puff, platzen die Augen auf und man ist voller Blut, wenn man nicht schnell genug ausweichen konnte. Habt ihr manchmal Kopfschmerzen?“

Pethen hatte das Gefühl, dass ihn der Mann einfach überrollte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihm zu antworten: „Seit ein paar Monden nicht mehr.“

„Regelmäßiger deine Magie verwendet? Das ist gut. Und die Sicht verwendest du mit großer Leichtigkeit, wie ich schon festgestellt habe. Wie weit kannst du sehen?“

Die Frage kam unerwartet, vor allem, weil sich Pethen nie darüber Gedanken gemacht hat.

„Vielleicht hundert, zweihundert Schritte?“

„So leicht, wie du damit umgehst, solltest du problemlos aus die Stadt rausblicken können. Würde ich aber nicht empfehlen. Das kann ziemlich verwirrend werden, vor allem, wenn man nicht nur nach vorne kuckt. Das ist eins der Probleme bei euch Vindrir. Ihr seht überallhin. Eben nicht mit den Augen.“

„Das klappt sowieso nicht. Da sind zu viele Häuser im Weg. Bevor ich mich mit der Sicht durch alle Straßen geschlängelt habe, bin ich vor Erschöpfung umgefallen.“

Der Fremde sah ihn erstaunt mit großen Augen an und begann dann schallend zu lachen.

„Das ist gut.“ Schnell beruhigte er sich wieder. „Naja, eigentlich ist es eher traurig. Hör mal.“ Er trat näher an Pethen heran und deutete mit einem Zeigefinger auf dessen Kopf. „Die Häuser sind kein Hindernis für deine Sicht. Das ist nur in deinem Kopf. Auch die Entfernung stellt kein Problem dar, nur all die Dinge, die du siehst. Deswegen sieh nicht zu weit.“ Der Mann zögerte kurz, dann machte er ein bestürztes Gesicht. „Oh, entschuldigt. Ihr besteht ja auf dem ‚Ihr‘.“

Pethen fühlte sich wie bei einem der Übungskämpfe mit Hylei: Sie brachte ihn oft ganz einfach aus dem Gleichgewicht und sorgte mit jedem weiteren Angriff dafür, dass er es auch nicht wiederfand. Der Wortschwall des Fremden hatte die gleiche Wirkung auf seine Gedankengänge.

„Nichtsdestotrotz würde mich interessieren: mit wem seid ihr verbunden? Ich meine, der Faden, der euch folgt. Am anderen Ende muss jemand hängen, der euch nahe steht. Euer Meister?“ Der Mann blickte Pethen neugierig an. Als er jedoch keine Bestätigung erkennen konnte, fragte er weiter: „Ein Bruder? Vater? Mutter? Irgendwer anderes aus der Familie? Ein Feind?“ Er senkte den Kopf. „Ihr solltet wirklich dringend die Verbindung kappen. So kann er euch immer wieder finden.“

„Warum fragt ihr nach der Familie?“

„Warum nicht. Menschen haben immer eine Verbindung zu der Familie. Wichtiger jedoch noch ist, dass Magie immer wieder in den gleichen Familien auftaucht. Aber wen habt ihr euch zum Feind gemacht, der über das gleiche Talent wie ihr verfügt.“

„Davon weiß ich nichts“, log Pethen, obwohl er sich augenblicklich fragte, was mit diesem Priester sein mochte, dass er das gleiche Talent teilen sollte, wie ein Magier. Als er später an den kurzen Kampf zurückdachte, fiel ihm auch zum ersten Mal auf, wie ähnlich der Angriff des Priesters seiner eigenen Verteidigung gewesen war, der Kampf einer Energiewand gegen die andere. Das mochte nichts bedeuten, es gab dem jungen Magier jedoch Stoff zum Grübeln.

„Na gut. Ich sehe, dass ihr mir nicht traut. Wenn mir jemand folgt, bin ich auch immer besonders misstrauisch, nicht, dass das in letzter Zeit geschehen wäre.“ Der Fremde lächelte, wobei seine Augen fast traurig wirkten. „An eurer Stelle würde ich vermutlich die Stadt verlassen, sonst findet euch euer Feind. Aber so lange ihr hier seid, könnt ihr hier“, er deutete auf einen Balken an dem Schuppen, neben dem sie standen, „drei Striche in den Balken ritzen. Dann weiß ich, dass ihr mit mir sprechen wollt. Vielleicht nehmt ihr meine Hilfe ja doch noch an.“ Er ging an Pethen vorbei und nickte ihm dabei zu. „Seid vorsichtig.“ Damit ging er schnellen Schrittes auf die nächste Häuserecke zu und verschwand aus Pethens Sichtbereich.

 

Hylei lehnte sich neben ihn an die Schuppenwand.

„Was ist da gerade passiert?“ Der Feenling schüttelte nur den Kopf.

„Wer ist das? Hast du ihn noch verfolgen können?“

„Wäre sinnlos gewesen.“

„Warum?“

„Er ist zu schnell. Seine Beine. Er federte beim Gehen, als könnte er auf ein Dach springen.“

„Habe ich nicht drauf geachtet.“

„Ich weiß.“

„Können wir ihm trauen? Er scheint mit helfen zu wollen, aber woher weiß ich, dass er mich nicht trotzdem ausliefert?“ Hylei zog leicht die Schultern hoch, gerade so viel, dass Pethen es mit seiner magischen Sicht erkennen konnte. Sie wusste, dass er nicht mehr benötigte.

„Er hat mich gefunden. Er wusste, dass wir, ich meine ich, auf der Flucht bin. Und das mit dem ‚Faden‘, wie er das nennt, das ist unheimlich. Ich habe während des Tages versucht darauf zu achten und ich scheine wirklich eine Spur hinter mir herzuziehen. Überall wo ich langgehe. Ich kann es mir kaum länger ansehen als ein paar Herzschläge. Macht einen wirklich verrückt. Ist mir aber vorher nie aufgefallen. Kannst du es sehen?“ Sie schüttelte den Kopf, blickte ihn aber nicht an. „Wolltest du ihn nicht töten? Er stand die ganze Zeit da.“

Diesmal bewegte sich Hylei nicht. Sie hatte in ihrem Versteck gelegen und den Fremden beobachtet. Sie hatte sehr gute Ohren, weswegen sie das meiste verstanden hatte, sie hatte jedoch weniger auf die Worte als auf die Person selbst geachtet. Sie kannte Menschen und Feenlinge und wie sie sich bewegten. Feenlinge setzten ihre Schritte geschmeidiger, wedelten weniger mit den Armen und hielten sie grader. Sie waren in jeder Beziehung anmutiger. Aber dieser Mensch, der ihren Gefährten mit einer Wolke aus Worten eingenebelt hatte, versuchte sich wie ein Mensch zu bewegen, ließ aber immer wieder erkennen, dass sein Körper schneller war, kräftiger, gewandter. Es waren nur einzelne Gesten, oder wie er auf Pethens Agieren reagierte. Sie hatte noch nie jemanden gesehen, der so offensichtlich daran gewöhnt war, Kämpfe zu bestehen, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen. Nur für einen Moment hatte sie mit dem Gedanken gespielt, eines ihrer Wurfhölzer zu ziehen. Aus irgendeinem Grund war sie sich jedoch sicher gewesen, dass sie ihn verfehlt hätte. Und genauso sicher war sie sich, dass die beiden zusammen gegen ihn weder körperlich noch mit ihrer Magie in einem Kampf hätten bestehen können, auch wenn sie für seine magischen Fähigkeiten nur Pethens Wort hatte.

Ihr Gefährte schien sie zu beobachten, während sie ihren Gedanken nachhing.

„Ich glaube, es war gut, dass du es nicht versucht hast. Aber was machen wir jetzt?“

Hylei zeigte nach Osten und Pethen musste nicht darüber nachdenken, was sie damit meinen konnte. Er stieß sich von der Wand ab.

„Morgen?“

Hylei nickte: „Am Osttor.“

„In der Früh?“

Hylei dachte nach.

„Lass uns auf dem Markt treffen. Nach der Arbeit.“

„Dann gehen wir mit den Bauern aus der Stadt. Und können noch etwas besorgen. Ja, besser.“

Sie sahen sich in die Augen, drehten sich fast gleichzeitig um und gingen in Richtung ihrer Unterkünfte. Erst als sie außer Reichweite des jeweils anderen waren begannen sie sich umzusehen, ob ihnen jemand folgte.



Feen 2: Ein wenig Owithir, ein wenig Reig

Dienstag, 9. September 2014, 00:58
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Sie waren ganz nah. Der leuchtende Pfad, den Owithir vor sich sah, war so deutlich, wie er ihn zuvor noch nie wahrgenommen hatte. Sie hatten sogar eine kleine Pilgergruppe überholt, deren Anführer behauptete, sie gefangengesetzt zu haben, bis sie mit ihren dämonischen Kräften seine Wächter überwältigt hätten und entkommen waren. Owithir zweifelte an dieser Darstellung, nicht weil er glaubte, dass es unmöglich war, die beiden Magier zu überrumpeln, sondern weil er sich sicher war, dass die Flucht zumindest zu schweren Verletzungen oder sogar dem Tod der Wächter geführt hätte, wenn er von dem ausging, was sie hatte tun sehen.

Auch wenn der Bericht jener Pilger fragwürdig war, stand dennoch außer Frage, dass sie den beiden begegnet waren. Owithir hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Gedanken dieser Männer zu lesen. Was hätte er erfahren können, dass ihm bei der Jagd geholfen hätte? Die Scham, die von dem Anführer ausgegangen war, hatte er sich jedoch nicht entziehen können, als sie an der Gruppe vorbeigeritten waren. Er war versucht gewesen, sein Bataga zu zügeln. Reigerins Widerwillen gegenüber diesem Mann war jedoch so stark gewesen, dass er den großen Reitbüffel weitertrotten lassen hatte. Seine eigenen Wächter waren ihm gefolgt und es war ihm nicht entgangen, dass Tafgen einem der angeblich verzauberten Wächter des Pilgers zunickte.

Als sie außerhalb der Hörweite der kleinen Gruppe gewesen waren, hatte Pethen sich an Reig gewandt: „Ich spüre, dass du die Pilger nicht mochtest. Was stört dich an ihnen.“ Reig zögerte. Sie schämte sich, von Owithir nach ihren Gefühlen befragt zu werden. Sie reiste jetzt bereits seit drei Wochen mit einem Priester und fünf Kriegern durch eine Welt, von der sie keine Vorstellung gehabt hatte. Sie hatte die Männer all die täglichen Dinge tun sehen, die auch ihre Eltern und Geschwister getan hatten. Sie hatte sie fluchen gehört und ihnen das Wasser geholt. Sie hatte sogar damit begonnen sie zu bekochen mit dem wenigen, was man in dieser Jahreszeit und auf der Reise kochen konnte. Und vor allem saß sie Tag für Tag hinter Wohlehrwürden, roch ihn, spürte seine Wärme, hörte seine Freundlichkeit. Sie war noch ein junges Mädchen, sie war jedoch auf einem Hof mit Tieren aufgewachsen. Sie kannte die Läufe der Natur und was sie zwischen den Tieren anstellten. Sie war sich sicher, dass sie etwas Ähnliches empfand, auch wenn die Jahreszeit nicht danach war. Und sie wusste, dass es nicht rechtens war, etwas Derartiges gegenüber Wohlerwürden zu empfinden. Sie konnte ihre Gefühle jedoch nicht unterdrücken oder verneinen. Er war so freundlich zu ihr, er sorgte sich um sie. Die Söldner waren ebenfalls nett zu ihr, aber sie spaßten nur mit ihr, lobten oder neckten sie. Owithir, Wohlehrwürden, schien sie jedoch zu verstehen. Auch wenn er streng war, so war er doch gerecht, aufrichtig und auf seine eigene Weise gütig.

„Er war nicht ehrlich.“

„Viele sind nicht ehrlich. Auch meine Wachen lügen, wenn es ihnen nützlich erscheint.“ Kalig, der direkt hinter ihnen ritt, lachte kurz auf. „Sie stören dich nicht.“

Reig hatte einen Augenblick überlegen müssen. „Er ist wie der Händler, der mal auf dem Hof war.“

Owithir hatte die Gefühle in dem Mädchen aufwallen gespürt. Er spürte sie allzu oft und allzu deutlich. Es blieb nicht aus, wenn sie sich an ihm festhielt. Er konnte sich kaum dagegen wehren.

„Der Händler hat euch betrogen?“ Er hatte es als Frage formulierte, obwohl er die Antwort bereits gekannt hatte. Reigerin hatte nur genickt, was er nur an seinem Rücken hatte spüren können, aber nicht sehen.

„Ich weiß was du meinst, Reig. Ich mochte ihn auch nicht.“

 

Seitdem waren sie weitergeritten und den beiden Hexern immer nähergekommen. Owithir wäre gerne noch schneller vorangekommen. Zwar erschöpfte er inzwischen nicht mehr so leicht, trotzdem strengte ihn das Reiten und die göttliche Sicht, mit der er der Spur folgte, immer noch an. Seine Wächter mussten ihn jeden Abend zwingen, die Verfolgung zu unterbrechen, weil sie fürchten mussten, dass er erneut von seinem Bataga herunterfallen würde, wenn er sich überanstrengte.

Da sie jetzt der Straße folgten, kamen sie immer wieder an Gaststätten vorbei. Allerdings musste der Priester das Geld zusammenhalten, denn er bestand darauf, für alles, was sie sich nehmen mussten, auch zu bezahlen. Seine Wächter kannten viele Priester, waren mit vielen gereist. Für sie alle waren die Dinge, die sie sich von ihren Gläubigen nahmen, nur weitere Opfergabe an die Götter, als deren Vertreter sie angesehen wurden. Kein anderer Priester den sie kannten hatte in ihrer Anwesenheit jemals einen Bauern für etwas Geld gegeben. Und dies, so seltsam es auch sein mochte, gefiel den Wächtern, die es ansonsten gewohnt waren, überall gefürchtet zu sein. Es gab ihnen das Gefühl mehr als nur privilegierte Waffenträger zu sein. Mit Owithir waren sie tatsächlich Diener der Götter, etwas Besonderes. Denn natürlich war ihnen das Leiden der Bauern vertraut. Schließlich war keiner von ihnen mit einem goldenen Löffel im Mund auf die Welt gekommen. Nur weil es ihnen im Dienst der Priester besser ging, ignorierten sie das Leid oder freuten sich heimlich, dass es nicht sie selbst traf.

Nur leider bedeutete Owithirs Großmut eben auch, dass sie sich keine Unterkunft leisten konnten. Hinzu kam, dass er sich nur ungerne seine Tagesritte von irgendwelchen Wegmarken wie den Gaststätten bestimmen ließ. So bauten sie nun ein weiteres Mal ihr Lager am Wegesrand auf, in der Kälte, mit einem mageren Feuer, nur mit dem Schutz einiger Blattloser Sträucher und des Batagas sowie der fünf Ges, an die sie sich schmiegten, um von beiden Seiten Wärme zu empfangen. In der Kälte verschwanden die Standesunterschiede und die kleine Gruppe drängte sich dicht zusammen. Owithir hätte gerne auf diesen Kontakt verzichtet, aber selbst wenn seine eigenen Träume mit denen der anderen durchmischt wurden, die Wärme war willkommen.

Owithir und Reig waren von den Wachen ausgenommen. Aber oft genug wachte einer von ihnen auf, wenn beim Wachwechsel ein Rucken durch ihr Lager ging. Manchmal setzte sich Owithir dann zu dem Wachhabenden ans Feuer und leistete ihm Gesellschaft, so wie auch diese Nacht.

Das Feuer war inzwischen nur noch ein Glühen, denn sie hatten nicht viel Holz finden können. Die Bauern der Umgebung, Holzhändler und wohl auch die Reisenden vor ihnen hatten bereits das Meiste Brennmaterial verbraucht oder fortgeschafft. Daher hielt sich Tafgen, die dritte Wache in dieser Nacht, mit den eigenen Armen umschlungen dicht neben der Glut, von der kaum noch etwas zu sehen war. Owithir hatte gehofft, sich ein wenig am Feuer aufwärmen zu können, blieb aber trotz der Kälte einen Moment bei dem Wächter. Die Nacht war finster und nur ab und zu konnte man einen Schimmer des Rings oder den Halben Mond zwischen den Wolken hervorblinzeln sehen. Für den Priester hielt die Dunkelheit jedoch keine Geheimnisse mehr, seitdem er begriffen hatte, dass die besondere Sicht, die er als Gabe von den Göttern erhalten hatte, ihm auch die Nacht erhellte. Die Ironie dabei entging ihm nicht. Er war der einzige in seiner Gruppe, der jetzt noch etwas sehen konnte, aber trotzdem brauchte er keine Wache zu halten.

„Marinam meinte heute, wir müssten morgen Imanahm erreichen. Warst du schon einmal da?“ Es war eine jener belanglosen Fragen, die man stellte, um ein Gespräch zu beginnen, denn Owithir wollte nicht nur still hier hocken und auf die verlöschende Glut starren.

„Bin mal durchgekommen, Wohlehrwürden. Da waren ich, Laftin, Grillem und Sit noch Ehrwürden Ulavderan unterstellt.“

„Ich erinnere mich an Ulavderan. Ich bin ihm ein paar Mal im Tempel begegnet, wenn er uns Häretiker zur Befragung brachte. Er schien mir sehr streng und unnachgiebig zu sein. Wenig freundlich.“ Tafgen nickte. Das kannten sie inzwischen von ihrem Priester: er sprach offen über andere Geistliche. Seine Stimme verriet keinen Ton der Anklage, aber aus den Wörtern konnte man oft schließen, wenn man es denn wollte, dass er nicht immer einverstanden mit seinen Kollegen war. Was daran ungewohnt war, war nicht, dass ein Priester über ein anderen lästerte, sondern dass er sich mühe gab, es nicht zu tun. Der Wächter wusste, dass es solche Priester gab, er hatte jedoch nie mit ihnen zu tun, denn sie saßen in den Bethallen, Schreibstuben und Klausen. Außer mit ihren Gebeten verfolgten sie keine Ketzer. Wohlehrwürden war so sanft wie die betenden Priester, er konnte jedoch ebenso hartnäckig und gnadenlos sein wie die Priester von Sonne und Schwert, mit denen Tafgen und die anderen Wächter für gewöhnlich arbeiteten. Wenn die Geschichten aus den Folterkellern stimmten, dann konnte er sogar noch grausamer sein, wenn die Umstände es verlangten.

„Waren die beiden anderen deine Freunde?“ Tafgen starrte weiter auf die Glut, sein Kopf zuckte jedoch zustimmend. Mehr brauchte Owithir nicht zu wissen. Wenn die vier eine Einheit gewesen waren, dann waren sie zusammen bei dieser Mission marschiert, bis in die Höhle, in der die Magier gehaust hatten und aus der nur ein paar Männer der großen Schar wieder herausgekommen waren.

„Hast du Angst vor dem Tod?“

„Nein, Wohlehrwürden. Wir kämpfen und wir sterben. So ist das.“

„Ja, so ist das wohl.“ Sie schwiegen und froren gemeinsam. Owithir spürte einen seltsamen Trost durch die Nähe seines Wächters. Zu selten fühlte er sich jemandem nahe.

Tafgen schreckte plötzlich hoch. Noch bevor Owithir sich aufrichten konnte, hatte der Wächter seine Armbrust in Anschlag gebracht und späte in die Dunkelheit hinaus. Als Owithir sich neben ihn stellte, nickte Tafgen in Richtung der anderen Wächter. Der Priester bewegte sich so leise er konnte zu den Männern hin, und weckte sie, während er weiter in die Nacht nach dem Geräusch lauschte, dass seinen Wachhabenden aufgeschreckt hatte.

Dann sah er hinter einigen Bäumen kleine Wesen hervortreten. Sie glichen Ratten, die auf zwei Beinen liefen. In ihren kleinen Händen hielten sie Speere und lange Messer. Er hatte solche Wesen noch nie gesehen, kannte jedoch Erzählungen von Rattenmenschen. Händler, die den Osten bereisten, hatten immer wieder von ihnen berichtet, von ihrem Gestank, ihrem Dreck und ihren wimmelnden Städten. Sie waren klein, aber es blieb nicht nur bei dem einen. Immer mehr tauchten in seinem Sichtkreis auf, verließen ihre Verstecke hinter Bäumen und Büschen. Sie gingen forschen Schrittes in Richtung des Lagers, verharrten jedoch, als einer von ihnen ein leises Fiepen von sich gab, dass Owithir überhört hätte, wenn er nicht gewusst hätte, dass dort Ratten standen.

Die kleinen Wesen schnüffelten in die Richtung der Menschen. Mit ein paar weiteren Fiepsern gab der Anführer seinem Trupp ein Zeichen, und die Rattenmenschen wichen zur Seite aus.

Inzwischen waren die Wächter aufgestanden und hatten sich mit ihren Pieken bewaffnet vor Owithir aufgestellt. Auch sie blickten in den finsteren Wald, konnten aber unmöglich die kleinen Gestalten erkennen. Möglich, dass sie Bewegungen wahrnahmen, aber Owithir wusste selbst, dass der Geist den Augen die unheimlichsten Streiche in der Dunkelheit spielte. Er hörte das vibrierende Geräusch der Armbrustsehne, als Tafgen auf etwas schoss, konnte dem Flug des Bolzens jedoch nicht folgen. Die Rattenwesen bemerkten den Schuss nicht einmal und setzten ihren Weg leise und flink fort.

Während noch Tafgen seine Waffe mit Haken und Bügel spannte, beobachte Owithir, wie die Gruppe der Rattenmenschen weiter nördlich von ihnen die Straße überquerte. Sie bewegten sich weiter ganz leise und erst nachdem sie aus seiner Sicht verschwunden waren, fiel ihm auf, dass seine Männer immer noch das Gebiet, aus dem sie zuerst Geräusche gehört hatten, anstarrten.

„Sie sind weg, Tafgen. Marinam, Kalig, legt euch wieder schlafen. Es wird uns nichts geschehen.“

Marinam, der inoffizielle Führer der verbliebenen Wächter, warf Owithir einen fragenden Blick zu, den der Priester, hätten ihn die Götter nicht gesegnet, unmöglich hätte erkennen können.

„Es waren Rattenmenschen und sie sind weitergewandert. Sie haben uns gerochen und wollten uns wohl nicht begegnen.“

Laftin schüttelte den Kopf, als wollte er zum Ausdruck bringen, dass er sich niemals an Owithirs Gabe gewöhnen würde. Trotzdem ging er zusammen mit den anderen Wächtern zurück zum Schlafplatz. Nicht nur er warf dabei dem heruntergebrannten Feuer einen missmutigen Blick zu. Owithir atmete leise erleichtert aus und kümmerte sich um Reigerin, die sich in Ermangelung eines warmen Rückens, an den sie sich hätte kuscheln können, zusammengerollt hatte. Er half Laftin und Kalig, sie ein wenig besser hinzulegen, damit sie sich als Menschliche Wärmekrucken um sie legen konnten.

Er lächelte. Die harten Männer, die den Tod nicht fürchteten, hatten das junge Mädchen anfänglich abgelehnt, hätten sie vielleicht sogar getötet, wenn Owithir sie nicht zuerst gefunden hätte. Inzwischen war sie ihnen jedoch ans Herz gewachsen, wie sie auch ihm ans Herz gewachsen war. So froh er darüber war, dass sie die Milde in den Kriegern geweckt hatte, so sehr wünschte er trotzdem, dass sie ihnen niemals gefolgt wäre, denn er fürchtete, dass die Gefahr, in die sie sie mitnahmen, sie umbringen würde.



Feen 2: Pethen wird entdeckt

Samstag, 6. September 2014, 18:16
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Vier Tage, länger hatte es nicht gedauert. Dabei hatten sie sich so viel Mühe gegeben. Pethen und Hylei hatten sich nur einmal während dieser Zeit gesehen. Sie waren aneinander vorbeigegangen und hatten sich zugenickt, ganz leicht, fast unsichtbar. Sie hatten sich darauf geeinigt, sich alle zwei Tage einmal zu sehen, zwei Monate lang, nur um zu überprüfen, ob sie beide noch in Ordnung waren. Dann wollten sie weitersehen. Aber nach nur drei Tagen hatte man ihn schon entdeckt. Er wusste nicht, wie. Er hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen. Er hatte keine Magie verwendet. Er hatte, soweit er wusste, immer die Augen offen gehabt, wenn er sie offen haben sollte, und geschlossen, wenn er schlief.

Aber vermutlich hatte er nicht einmal gemerkt, dass er einen Fehler begangen hatte. Nur wie hatte ihn der Mann, der ihn bereits den ganzen Morgen beobachtete, entdeckt? Pethen hatte ihn zum ersten Mal gesehen, gleich als er zur Arbeit gekommen war. Da er seine blinde Sicht inzwischen nur noch mit einer Willensanstrengung unterdrücken konnte, sah er immer etwas mehr als andere Menschen. Nur auf diese Weise war er ihm aufgefallen. Trotzdem hatte er sich anfänglich nichts weiter dabei gedacht, auch wenn er Nichts dergleichen jemals zuvor gesehen hatte. Er wusste, dass er bisher kaum unterschiedliche Wesen mit dieser speziellen Sicht gesehen hatte, nur Menschen, eine Feenlingin und die paar Jaltus, wenn man von den Tieren und Pflanzen absah. Aber sie alle hatten auf irgendeine Weise geleuchtet, bei Manchen nur der Körper, bei anderen, wie Hylei, auch die Luft um den Körper herum, besonders, wenn sie die Magie an sich zog. Unabhängig davon, hatte dieses Leuchten immer annähernd die Form der Person selbst beibehalten.

Bei jenem Mann jedoch war alles verkehrt. Im ersten Moment schien er gar nicht zu leuchten. Dann wieder gingen einzelne leuchtende Strahlen von ihm aus. Er schien zu flackern wie eine Kerze, dann wieder musste Pethen sich abwenden, weil er Angst hatte, geblendet zu werden, was einerseits sehr schwer war, wenn man das Licht selbst mit geschlossenen Augen sehen konnte und andererseits vollkommen unnötig, denn nichts an seinem Körper hätte von diesem Licht, das die Augen nicht sahen, geblendet werden können.

Beim ersten Mal war es ihm nicht aufgefallen, denn der Mann war nur kurz in seinem Sichtfeld erschienen. Dann war er wieder verschwunden und Pethen hatte nicht mehr an ihn gedacht, weil die Arbeit ihn in Anspruch genommen hatte. Doch wenig später hatte er ihn bei einer Hausecke gesehen, von wo aus er ihm direkt in die Augen zu blicken schien. Es war erst das zweite Mal, dass er ihn sah, aber die Intensität dieses Blicks beunruhigte den jungen Mann.

Von da an tauchte der Fremden immer wieder auf, immer an einer anderen Stelle, immer nur für ein paar Augenblicke. Und jedes Mal hatte Pethen ihn ein wenig besser gesehen und es hatte ihn mehr und mehr beunruhigt. Der „Mann“, oder was auch immer der Beobachter sein mochte, musste über irgendeine Art der Magie verfügen. Pethen hatte nur Hylei als Maßstab, da sich seine Sicht zu sehr in den letzten Wochen gewandelt hatte. Er wusste nicht, wie stark Hyleis Magie tatsächlich war. Aber im Verhältnis zu dem Feuer, das den Fremden umgab, war Hylei nur ein Stück Kohle, aus dem ein paar kleine Flämmchen hervorflackerten.

Inzwischen hatte ihn der Vorarbeiter zweimal angeschrien, weil er immer wieder aufblickte und dadurch seine Arbeit vernachlässigte. Auch seine Kollegen warfen ihm böse Blicke zu.

Er brauchte diese Arbeit. Er brauchte das Geld. Er konnte sich keine Fehler erlauben. Deswegen versuchte er den fremden Magier zu ignorieren. Ihm wurde jedoch langsam bewusst, dass seine Sicht, die ihm nachts im Wald so gute Dienste geleistet hatte, auch ein Fluch sein konnte. Er machte seine Arbeit, strengte sich an, konzentrierte sich, schwitzte vom Schleppen und der Willensanstrengung. Trotzdem sah er ihn immer wieder. Die Häufigkeit nahm sogar zu und die Orte an denen er auftauchte wurden immer irritierender. Warum kletterte er auf Dächer, versteckte sich hinter Schuppen oder unterhalb eines Stegs? Entweder er wusste, dass Pethen ein Magier war, der ihn mit seinen besonderen Kräften sehen konnte, dann brauchte er sich nicht verstecken. Oder er wollte ihn beobachten, weil er sich nicht sicher war, dann hätte er sich bessere Orte aussuchen müssen.

Pethen konnte es nur mühsam bis zur Pause aushalten. Sobald der Schiffbaumeister das Signal gab, legte er das Holzstück ab, dass er gerade herbeigetragen hatte, und rannte geradewegs auf den Mann zu, der sich derzeit hinter einen Schiffsrumpf versteckte. Die anderen Arbeiter blickten ihm nach, sagten jedoch kein Wort. Sie wunderten sich nur über den schmächtigen Jungen, der sich alle Mühe gab, heute aber ein wenig abgelenkt zu sein schien.

Schon bevor Pethen den Rumpf erreicht hatte, war sein Ziel bereits wieder verschwunden. Er drehte sich im Kreis, um seine Umgebung abzusuchen. Zumindest tat er so, als wenn er seinen Blick über die Umgebung schweifen lassen würde, denn er wusste bereits, wo der Mann diesmal aufgetaucht war. Inzwischen wunderte er sich nicht mehr darüber, dass der Fremde von einem Ort verschwand und an einem auftauchte, ohne sich dorthin bewegt zu haben. In der Magierzuflucht hatte er nichts von einem solchen Zauber gehört, der es jemandem erlaubte, so schnell zu laufen, dass man ihn nicht mehr sah. Aber nach allem, was er gesehen hatte, musste der Magier mächtiger sein, als jeder andere, dem er bisher begegnet war. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wozu Hylei fähig wäre, wenn sie eine richtige Ausbildung erhalten würde, nach allem, was Pethen wusste, konnte der Fremde Berge versetzen.

Er machte sich wieder auf den Weg, diesmal rannte er jedoch nicht. Diesmal ging er langsam, auch wenn dies bedeutete, dass ihm kaum genügend Zeit bleiben würde, um am Ende seiner Pause wieder rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz zu sein.

Schließlich traf er den Mann am Eingang einer Gasse, wo er auf Pethen zu warten schien.

„Schön, dass du gekommen bist. Was hat dich aufgehalten?“

„Wer seid ihr?“

„Oh, gleich eine Fragen. Meinst du, dass wir uns schon gut genug kennen?“

„Ich euch nicht, aber ihr beobachtet mich seit Sonnenaufgang.“

„Du hast mich gleich gesehen, oder?“ Pethen reagierte nicht, was den Fremden jedoch nicht zu stören schien. Er sprach einfach weiter. „Gestern hast du mich jedoch nicht gesehen, stimmt‘s? Da habe ich dich nämlich entdeckt. Du stichst ziemlich heraus, wenn man weiß, wonach man kucken muss. Zum Glück wissen das nicht viele hier. Ich kenn nur noch einen anderen, und der ist ein guter Freund. Aber du kannst es auch sehen, nicht wahr? Sonst hättest du mich nicht so leicht gefunden.“ Pethen konnte den Mann immer noch nur anstarren, seine Feindseligkeit ließ jedoch zu Gunsten seiner Verwirrung nach.

„Wir wissen beide, dass es für uns hier gefährlich ist. Deshalb sollten wir uns heute Abend irgendwo anders treffen. Allerdings solltest du wissen, dass du einen ziemlich dicken Faden hinter dir herziehst. Du bist mit jemandem verbunden, wenn ich mich nicht irre. Du solltest den Faden kappen. Wer weiß, was sonst dabei herauskommt.“ Der Fremde blickte in die Richtung von Pethens Arbeitsplatz. „Ich bin heute Abend wieder hier. Dann können wir weiterreden. In Ordnung?“

Diesmal nickte Pethen. „Wie konntet ihr euch so schnell bewegen? Kann ich das auch lernen?“

„Magie“ Der Mann lachte. „Was denkst du denn? Aber ich bin mir nicht sicher, ob du es lernen kannst. Ich bin kein Lehrer und deine Magie ist sowieso anders. Ich hab‘s mal die zweite Magie genannt, sehr zum Ärger eines Freundes“, er schmunzelte bei der Erinnerung, während Pethen bei diesen Worten vor Erstaunen der die Augen übergingen. Er hatte auf einer alten Tafel einen Vermerk gelesen zu dieser zweiten Magie. Sein Meister hatte vermutet, dass dies seine Magie wäre, was der Fremde jetzt zu bestätigen schien. Aber der Eintrag war so alt gewesen, dass niemand auch nur ahnte, wer ihn geschrieben haben könnte. Wenn der Mann vor ihm nicht einfach nur log, dann …

„Aber an deiner Stelle würde ich jetzt zurück gehen. Sonst verlierst du noch deine Arbeit.“

Pethen nickte ein zweites Mal und drehte sich um. Er rannte ohne auf seine Umgebung zu achten, konnte aber trotzdem sehen, wie der Fremde erneut verschwand, ohne dass er die Bewegung hatte wahrnehmen können.

 

Hylei war nicht begeistert, als Ihr Weggefährte ihr auf ihrem Heimweg auflauerte. Wahrscheinlich war es ein Glück, dass sie nur eines ihrer Wurfhölzer bei sich trug. Hätte sie ihr Messer dabei gehabt, Pethen hätte ernsthaft verletzt werden können. Er wusste nicht, wo sie ihre anderen Waffen untergebracht hatte, nur von ihrem Speer kannte er das Versteck, denn er war dabei gewesen, als sie auf einen Baum vor der Stadt geklettert war, und ihn an einen hochgelegenen Ast gebunden hatte.

„Was machst du hier?“ Hylei hatte ihm mit ihrem Ellenbogen einen Schlag in den Magen versetzt. Anschließend war ihr Fuß gegen ihren Hacken gestoßen und sie hatte ihm einen kräftigen Stoß gegen seine Brust versetzt. Nun lag er auf dem Boden, sein ganzer Körper schmerzte und seine Arme waren von ihren Knien fixiert, während er gebannt auf das Wurfholz in ihrer erhobenen Hand starrte.

Er versuchte zu antworten, kriegte jedoch kaum Luft und konnte nur vor Schmerzen ächzen. Mit einer geschmeidigen Bewegung verschwand das Holz wieder an Hyleis Körper und sie erhob sich. Pethen blieb noch einen Augenblick lang liegen, stand dann aber mühsam auf, indem er sich zuerst auf die Seite rollte und langsam hochstemmte. Er hustete noch einmal, bevor er antwortete. „Da war ein Mann. Er wusste, was ich war … bin.“

Hylei sah ihn mit diesem Blick an, den sie immer für ihn erübrigte, wenn er etwas in ihren Augen ausgesprochen Dummes getan hatte. „Ich habe nichts gemacht. Er hat mich einfach gefunden.“

Er versuchte es ihr unter ihren kritischen Blicken zu erklären, was nie leicht für ihn war. Hinzu kam, dass es schwer war, ihr die Begegnung und seine Eindrücke zu vermitteln, ohne das Wort Magie zu verwenden oder irgendetwas, das einem zufälligen Lauscher einen Hinweis auf ihre Fähigkeiten geben mochte. Gleichzeitig durfte er auch nicht die magische Fortbewegung des Magiers erwähnen, wollte Hylei jedoch begreiflich machen, wie mächtig dieser Mann sein musste. Je länger es dauerte, desto unruhiger wurden sie beide, bis Hylei schließlich einlenkte.

„Ich komme auch heute Abend. Warte aber nicht auf mich. Ich werde mich versteckt halten. Und erwähn mich bloß nicht.“

„Hab dich ja jetzt auch nichts über dich gesagt. Und so, wie er sich ausgedrückt hat, weiß er noch nichts von dir.“

„Versuch ihn ins Freie zu bekommen. Dann werde ich sehen, ob ich ihn töten kann.“



Feen 2: Estron findet eine Unterkunft

Sonntag, 31. August 2014, 08:11
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Eigentlich hätte es niemanden überraschen sollen, dass Estron selbst in Imanahm jemanden kannte. Trotzdem hätte vermutlich nicht einmal Shaljel geahnt, dass dieser Freund eine vornehme Dame in einem vornehmen Haus mit Bediensteten und einer unnötig großen Zahl Zimmern war.

„Oh Meister Estron, wie konntet ihr hierher kommen? Wisst ihr nicht, dass es gefährlich ist?“ Dame Salvina war in den kleinen Raum gelaufen gekommen, so schnell es ihre Würde erlaubte. Eine Dienerin hatte die kleine Gruppe in ein bescheidenes Zimmer gleich beim Dienstboteneingang gebracht und dabei missbilligend auf den Chuor geblickt, als würde er Läuse mit ins Haus bringen. Dass der Chuor vermutlich der sauberste unter ihnen war, konnte sie nicht wissen. Kurz nachdem sie davongeeilt war, um ihrer Herrin von den Besuchern zu berichten, erschien prompt eine weitere Dienerin, die verlegen etwas Wasser anbot, ob als Getränk oder zum Waschen wusste sie wohl selber nicht. Aber jedem war bewusst, dass ihre eigentliche Aufgabe darin bestand, auf die schmutzigen Besucher aufzupassen.

Estron lächelte über Salvinas Auftritt, die sich daraufhin dem Mädchen zuwandte, welches immer noch den Wasserkrug in den Händen hielt. „Leilena, gutes Kind, lauf bitte zum Majordomus und richte ihm aus, dass wir fünf Gäste haben. Er soll alles herrichten für ihren Aufenthalt. Und sag dem Herrn Bescheid.“

Als das Mädchen die Tür hinter sich verschlossen hatte, umarmte Salvina den Keinhäuser und blieb länger in seinen Armen, als es nötig gewesen wäre. Als sie sich löste konnte sie ihr Naserümpfen nicht ganz verbergen.

„Seid ihr lange unterwegs gewesen?“

„Lange und wir sind weit gewandert. Es tut mir leid, dass wir bei dem Wetter nicht so sehr auf unser Äußeres geachtet haben.“

„Dagegen werden wir schon etwas tun. Aber wo sind meine Sitten geblieben. Ihr müsst mir unbedingt eure Freunde vorstellen.“ Sie wandte sich an die anderen: „Und ich hoffe, dass ihr auch meine Freunde werdet. Nein, eigentlich habe ich keine Zweifel, dass wir Freunde werden. Bitte, Meister Estron, stellt uns einander vor.“

Zur Überraschung seiner Schüler gelang Estron eine fast formvollendete Verbeugung, wie sie wohl jedem Patrizier-Foppen Imanahms gut zu Gesicht gestanden hätte, und mit schönen Worten stellte er Shaljel, Streiter, Tro-ky und Kam-ma vor. Er erzählte von ihren Taten, wie viel sie gemeinsam gesehen und erlebt hatten, was für großartige Menschen – und in einem Fall Wolfsmensch – sie waren. Er schmeichelte und lobte und jeder seiner Freunde reagierte anders auf seine Worte. Tro-ky wandte sich zu dem kleinen Fenster, Kam-ma wurde rot und blickte zu Boden. Shaljel grinste und lachte mehrmals. Und Streiter blieb stoisch an seinem Platz stehen, als wenn er gar nichts hören würde. Die Dame Salvina tat es Shaljel gleich, auch wenn ihr Wohlwollen gegenüber ihren Gästen mit jedem Wort zunahm. Als Estron geendet hatte, nahm sie jeden von ihnen in den Arm, selbst Streiter, der weiterhin steif blieb.

Wenig später fanden sich die Gäste in der Waschküche wieder. Salvina hatte darauf bestanden, dass sie ihr Bad nehmen sollten, aber Estron, der wusste, wie lange die Hausangestellten benötigen würden, die große Wanne zu füllen, hatte die anderen hierher getrieben. Den Weg hatte er aus dem eingeschüchterten Mädchen herausgekitzelt, der er überschwänglich für ihre Freundlichkeit gedankt und auf diese Weise die Einwände ihrer Herrin übertönt hatte. Von ihr erhielten sie auch Tücher zum Waschen und Abtrocknen. Als jedoch Salvina ihn ein letztes Mal bedrängt hatte, doch vernünftig zu sein, nahm er wenigstens die Seife an, die kostbarer war, als alles, was er seit langem in den Händen gehalten hatte, vielleicht mit Ausnahme eines kleinen Rindenstücks, auf das acht Leute uriniert hatten.

Während sie sich noch wuschen, kam ein Diener herein, der mehrere dünne Mäntel auf einen Hocker legte. Shaljel betrachtete sie sich lachend.

„Was ist das denn? Da kann ich ja auch nackt gehen.“

„Ich dachte, darüber hätten wir uns schon unterhalten, Shaljel?“

„Ist doch nur ein Scherz. Ich weiß auch, dass ich hier nicht nackt herumlaufen kann. Aber sieh dir mal den Stoff an. Und der Schnitt. Ein Windstoß und man ist mehr oder wenig nackig.“ Er warf sich den Mantel über, ohne sich abzutrocknen. Anschließend führte er eine schnelle Drehung aus, so dass sich der Saum hob und man kurz seine Nacktheit erkennen konnte. Kam-ma lachte. Auch Tro-ky konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Estron hingegen blickte Shaljel nur missbilligend an.

„Es sind Hausmäntel. Sie sind nur für das Haus gedacht.“

„Warum?“

„Damit wir hier nicht nackt sind.“

„Nein, warum macht jemand einen Mantel, den man nur im Haus trägt? Sowas habe ich noch nie gehört.“

„Ich kann es dir nicht genau sagen. Es ist wohl praktisch, Kleidung zu haben, die nur für drinnen ist. Vermutlich muss man die dann nicht so oft waschen.“

Shaljel blickte ihn mit einem ungläubigen Blick an. „Du weißt es auch nicht.“

„Nein, ich weiß es auch nicht. Aber wir ziehen sie jetzt an und uns wird trotzdem wärmer sein als die gesamten letzten Monate. Ich darf nur nicht daran denken, dass da Diener im Keller schuften müssen, damit wir es warm haben.

„Stimmt, denk nicht daran, sonst verdirbst du es noch mit unseren Gastgebern. Woher kennst du sie eigentlich?“

„Ich bin ihnen auf einer Reise begegnet. Man konnte ihre ehelichen Probleme bis vor die Gastwirtschaft hören.“

Shaljel nickte nur. Inzwischen hatte er Estrons Neigung kennengelernt, sich in Probleme anderer einzumischen. Allerdings war er wohl nicht derjenige, der sich ein Urteil darüber bilden sollte. Er hatte die letzten Jahrhunderte, nein, Jahrtausende, nichts anderes getan.

Streiter, den es weniger drängte, sich einzumischen, als alles im Stillen zu beobachten, konnte die Neugier von Estrons Schülern riechen. Sie waren immer begierig, alles über das Leben ihres Meisters zu erfahren, so genau, wie irgend möglich. Und Estron neigte dazu, nur spärlich von seiner Vergangenheit zu erzählen. In Streiters Augen war es allerdings recht deutlich, was geschehen sein musste, auch wenn er die Details nicht kannte. Streiter, der immer vermied, etwas von seiner Vergangenheit preiszugeben, konnte sehr gut damit leben, die Details der Vergangenheit eines anderen nicht zu kennen.

„Was ich dich schon immer fragen wollte“, versuchte Estron das Thema zu wechseln, „ warum nimmst du eigentlich immer eine männliche Gestalt an?“

Shaljel legte den Kopf schief und betrachtete den Keinhäuser. Kam-ma und Tro-ky waren zu erstaunt, um etwas anderes zu tun, als Blicke zu wechseln.

„Das stimmt doch gar nicht. Ich habe auch schon weibliche Formen angenommen. Warum fragst du?“

„Geht mir einfach seit geraumer Zeit nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe dich nur als Mann erlebt, aber ich weiß von Anai …“

„Ja ja ja, Anai ist eine alte Plaudertasche. Männliche Körper sind meist einfach praktischer.“

Estron nickte traurig. Wie hätte ihm auf seinen Wanderungen nicht das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern auffallen können. Es bestand bei allen Völkern, bei allen Rassen, in die eine oder andere Richtung. Nicht immer waren Frauen die Unterdrückten. Unter den menschlichen Völkern hatte Estron jedoch nur wenige gefunden, bei denen die Frau dem Mann als ebenbürtig betrachtet wurde, wenn nicht sogar überlegen. Und selbst wenn die Menschen so dachten, bedeutete das nur selten, dass sie auch so handelten. Männer besaßen bei den meisten Völkern mehr Freiheiten, das war eine Tatsache und Shaljel nutzte sie nur aus. Estron hätte es sich denken können. Er hatte sich vermutlich nur nie vorstellen können, wie bedeutungslos die unterschiedlichen Geschlechter für einen Feen waren, der beide und keines von ihnen besaß.

Wahrscheinlich würden ihn seine Schüler später nach seiner seltsamen Frage aushorchen und er würde sie mit dem Sexualleben der Feen in Staunen versetzen.

 

Wenig später standen die fünf vor der Waschküche, die Menschen in ihren Hausmänteln und Filzpantoffeln an den Füßen, der Chuor mit dem Stoff als Lendenschurz um seine Hüfte gebunden. Shaljel und die beiden jüngeren kicherten verschämt, weil sie sich albern in dem unpraktischen Stoff vorkamen. Salvina, die offensichtlich vor der Tür gewartet hatte, sah sie tadelnd an, konnte aber ebenfalls ein Lächeln nicht verbergen, als sie ihre Gäste betrachtete.

„Kommt, mein Gatte wartet bereits auf euch. Ich habe versucht viel Gemüse auftragen zu lassen. Aber die Jahreszeit, ihr wisst schon, da kann man nicht viel machen. Da ist es nicht mehr ganz so frisch.“ Sie wandte sich an den Chuor, der sie fast um drei Köpfe überragte. „Du isst Fleisch? Wir haben ein wenig Wild. Mein Gatte kann rohes Fleisch nicht ausstehen, deswegen ist es gekocht. Ist das in Ordnung.“ Streiter, der sich sichtlich überrumpelt fühlte, nickte. Salvina nahm Estron am Arm und führte ihn durch das Haus zum Saal, wo ein großer Tisch mit kostbarem Geschirr auf wertvollen Tischdecken eingedeckt stand. Auf dem Tisch stapelte sich mehr Nahrung, als sie auf ihrer Wanderschaft in einer Woche gegessen hatten. Shaljel, aber auch Tro-ky und Kam-ma, beobachteten, wie der Keinhäuser vor ihnen herging und offensichtlich sein Unwohlsein ob dieses Überflusses zu verbergen suchte.

Ein Mann erhob sich vom Ende des Tisches. Er hatte vielleicht vierzig Ringfüllen erlebt, vielleicht auch ein paar mehr. Seine Leibesfülle machte es schwer, sein Alter zu schätzen, aber vermutlich war er nicht viel Älter als seine Frau, der er einen verliebten Blick zuwarf.

„Estron, Meister. Mein Herz tat einen Sprung, als mein Weib mir ausrichten ließ, dass ihr hier wäret. Niemals hätten wir gehofft, euch noch einmal zu Gesicht zu bekommen.“

Er ergriff die Hand des Keinhäusers und zog ihn an sich heran, um ihn zu umarmen. Widerstand war kaum möglich und Estron ließ es geschehen. So war Meister Greivano: er liebte es, seine Gefühle in schöne Worte zu kleiden, meinte aber auch jedes einzelne, wenn er unter Freunden war. Wenn man ihn nur so kannte, wurde man aufs Übelste überrascht, wenn man mit ihm zu feilschen begann, denn seine Worte blieben weiterhin blumig, verschleierten dann jedoch seine Absichten. Estron konnte schlecht mit dieser Form der Unehrlichkeit umgehen, mochte den beinahe runden Mann trotzdem sehr gerne.

„Es sieht so aus, als wäre es euch gut in den letzten Jahren ergangen.“ Er blickte auf den großen Bauch, den Greivano daraufhin zufrieden tätschelte.

„Meint ihr? Ach wem will ich etwas vorgaukeln? Ja, es geht uns großartig. Dank eurer Hilfe. Ohne euch wären wir nicht so glücklich, wie wir es jetzt sind.“

„Das freut mich zu hören. Und ich danke dir, auch im Namen meiner Freunde, dass wir hier für eine Nacht unterkommen können.“

„Das ist doch selbstverständlich! Aber setzt euch doch erst einmal. Ihr seht aus, als hättet ihr lange, hungrige Fahrten hinter euch gebracht.“ Und wieder konnte Estron dem kleinen Mann nicht widerstehen und ließ sich auf einen der prunkvollen Stühle drücken. Auch die anderen fanden sich schnell vor ihren Tellern wieder, die sich fast wie von Geisterhand füllten.

Die beiden Schüler hatten in den letzten Jahren gelernt, mit wenig auszukommen, was aber nicht bedeutete, dass es ihnen deswegen leichter fiel, dem Überfluss, der sich ihnen an dieser Tafel bot, zu widerstehen. Im Gegenteil aßen sie bis sie satt waren und anschließend noch eine ganze Weile mehr. Sie konnten sich nicht daran erinnern, jemals so viel gegessen zu haben und, wenn man ihren Schwüren in der anschließenden Nacht glauben durfte, würden sie sich auch niemals wieder den Magen auf diese Weise überfüllen.

Trotzdem gingen alle sehr glücklich zu Bett, bis auf Shaljel, der Estron etwas zuflüsterte, kurz mit der Hausherrin sprach und wenig später das Haus verließ.



Feen 2: Neues von den Jaltus

Donnerstag, 28. August 2014, 08:33
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Einige Jägerrudel waren nicht zurückgekommen. Irish wusste, dass damit zu rechnen gewesen war. Sie waren in einem fremden Gebiet, mit fremden Gefahren und fremden Gegnern. Ihr Volk war weit gewandert, um hierher zu gelangen, und sie hatten kaum einen Tag hinter sich, an dem nicht einer von ihnen gestorben war. Sie vermehrten sich schnell, aber die vielen kleinen Kinder machten die Reise nicht leichter und meist waren sie es, die starben. Das Weinen ihrer Mütter und Väter war oft das einzige, was von den erschöpften Jaltus zu hören war. Diese ganze Flucht war ein einziger Alptraum. Und Irish kannte sich inzwischen mit Alpträumen aus. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal geschlafen hatte, ohne von dem feurigen Ansturm der Drachen zu träumen, und von ihren Opfern, deren Körper sich in den Flammen verdrehten, wie es kein lebender Körper konnte. Noch träumte sie nicht von dieser Flucht. Aber sie durchlebte sie, Tag für Tag. Und alle blickten auf sie, Irish, die die älteste war. Sie hielten sie für weise. Sie hielten sie für ihre Führerin, ihre Retterin. Die ganzen letzten Monate hatte sie gehofft, dass sie vielleicht weise werden würde. Als Führerin hätte sie Entscheidungen treffen müssen, die ihr Volk retten, in Sicherheit bringen würde. So wie sie es jedoch sah, brachte sie die letzten Jaltus, die Überlebenden des Angriffs der Drachen, nur noch in immer größere Gefahr. Zum einen gab es hier zu viele Menschen. Sie kannten Menschen, Oh ja, sie kannten sie. Von allen Völkern, auf die sie jemals getroffen waren, mit denen sie Handel getrieben hatten und vor denen sie sich hatten verbergen müssen, waren die Menschen das uneinsichtigste, skrupelloseste und bornierteste. Vermutlich gab es auch gute und einsichtige unter ihnen, die nicht alle Jaltus verdammten, weil sie ihren Duft nicht ertragen konnten. Sie hatte von einem gehört, der sogar mit in die Städte gekommen sein sollte, aber bei den Nasen der Menschen konnte sie es nicht recht glauben. Wie brachte man ein ganzes Volk, jedes Mitglied mit einem eigenen Duft, an den Höfen, Dörfern, Städten und Straßen der Menschen vorbei? Es blieb nicht aus, dass sie entdeckt wurden, wenn auch nur vereinzelt. Natürlich zogen sich die einzelnen Jaltus immer gleich zurück. Aber nicht selten hatten sie bereits etwas mitgenommen. Irish, konnte es ihnen nicht verübeln. Sie waren alle hungrig. Sie konnte es den Menschen dann aber auch nicht verübeln, wenn sie verängstigt und wütend waren. Ihr Volk war jedoch klein und flink. Sie waren schwer zu finden, wenn sie nicht gefunden werden wollten und sich die geeigneten Verstecke suchen konnten. Doch wie sollten sie so viele Verstecke finden? Und mit jedem Mal, dass ein Mensch sie entdeckte, wurde die Gefahr größer, dass es sich herumsprach, dass irgendwelche Anführer der Menschen eins und eins zusammenzählten, dass man begann, sie zu verfolgen. Irish hatte ihr Lager an einem Bach aufgeschlagen. Nicht ganz ungefährlich, denn Wasser lockte die Lebenden. Die Kundschafter hatten jedoch den Lauf hinauf- und hinuntergespäht und keine Siedlung entdecken können. Als Wasserweg kam der Bach ebenfalls nicht in Frage, so dass die Jaltu sich recht sicher fühlte. Um ihr Lager herum legten immer viele andere Jaltus ihre eigenen Schlafstätten an. Wenn Irish es richtig verstand, hofften sie, durch ihre Nähe an ihrem Glück teilzuhaben. Welches Glück sie meinten, würde ihr wohl ewig ein Rätsel bleiben. Allerdings hielten sich auch einige Läufer und Rudelführer beständig in ihrer Umgebung auf, so dass immer wieder ihre Aufmerksamkeit gefordert wurde. „Wie weit willst du uns noch führen?“ „Ich weiß es nicht, Eikirs. Bis wir eine neue Heimat finden.“ „Aber hier sind nur Menschen.“ „Ich weiß Eikirs.“ „Wenn das jetzt immer weiter geht? Wenn jetzt überall Menschen sind?“ „Sie können nicht überall sein. Wir werden einen Ort finden.“ Sie war diese Gespräche leid. Am liebsten hätte sie Eikirs nur angequietscht. Aber selbst wenn es bei einigen Rudeln und sogar Familien üblich war, sich so lange anzuquietschen, bis ein Konflikt aus purer Erschöpfung beendet wurde, hatte sie in ihrer Zeit als Anführerin ihrer Jagdgruppe begriffen, dass damit nur selten etwas gelöst wurde. Stattdessen zuckten ihre Schnurhaare einmal kräftig, was viele inzwischen als ein Zeichen ihres Unmuts zu erkennen gelernt hatten. „Last uns erst Mal den Tag richtig beginnen“, beendete Irish das Gequengel. „Möchte jemand etwas berichten?“ Sie ließ ihren Blick in die Runde schweifen. Niemand schien den Anfang machen zu wollen. „Dann halt erst mal das übliche. Wie viele Tote?“ Alle Augen wandten sich Tsyrp zu, die die undankbare Aufgabe hatte, das Lager nach solchen Informationen abgehen zu müssen. Sie sah erschöpft aus, selbst wenn sie inzwischen gelernt hatte, einen guten Teil ihrer Arbeit zu delegieren. „Mhm, ja, es war eine ruhige Nacht. Ich habe zweiunddreißig gezählt, die ins Dunkel zurückgekehrt sind.“ „Wie viele von ihnen Kinder?“ „Alle bis auf einen.“ Irish nickte traurig und stimmte einen kurzen Gesang aus Piepstönen an, in den die umstehenden einfielen. „Hast du mehr?“ Tsyrp nickte: „Nachdem auch die letzten aufgeschlossen haben, sind seit vorgestern einhundert und zwei Babys zur Welt gekommen.“ „Schon bereinigt?“ als Tsyrp zum ersten Mal dieses Wort verwendet hatte, hätte Irish ihr am liebsten in die Schnauze gebissen. Es machte aus den gestorbenen Jaltus Zahlen. Doch schon nach einer Woche hatte Irish begonnen, genauso zu sprechen. Manches ließ sich nur ertragen, wenn man es als Zahlen betrachtete. „Nicht endgültig. Es könnte sich noch ändern.“ Und wenn man sich gerade in die Sicherheit der Zahl begeben hatte, wurde man von der Zählerin daran erinnert, dass es sich eben doch um Jaltus handelte, die sich nicht so einfach zählen ließen. „Danke, Tsyrp. Du hast wie immer gute Arbeit geleistet.“ Irish schnüffelte demonstrativ in Tsyrps Richtung. Die Zählerin erwiderte die Geste in Dankbarkeit. Die Anführerin richtete ihre Aufmerksamkeit auf die drei Rudelführer, die für die Kundschafter verantwortlich waren. „Wie viele sind nicht zurückgekommen?“ Sie hasste diese ganze morgendliche Prozedur der Berichterstattung. In ruhigen Momenten wusste sie, dass ihr Volk von ihr erwarten würde, dass die toten Babys am schwersten auf ihr lasten mussten. Aber jedes verlorene Kundschafterrudel wog schwerer auf ihr als 30 tote Kinder. Vielleicht, weil sie sich ihnen verbunden fühlte. Die drei Rudelführer tauschten ein letztes Mal blicke untereinander, bevor Yepri, der einzige Mann unter ihnen, antwortete. „Alle haben sich zurückgemeldet.“ Irish kannte diese Blicke. Sie hatte sie bei ihren Jägern gesehen, wenn sie etwas nicht erzählen wollten, dass offensichtlich wichtig war. Sie war sich sicher, dass niemand ihr Ohrenzucken entgehen konnte, und hoffte, dass die drei diese Aufforderung verstanden. Einen Moment lang wanden sie sich noch, brachen dann jedoch ein. „Cseirps Rudel ist gesehen worden.“ „Cseirps hatte den Süden?“ Schüchternes Nicken. „Was ist passiert?“ „Ein Menschenkind ist aus einem Baum gefallen und hat sie gesehen. Es ist wohl nichts passiert.“ „Nur das Kind?“ Erneut wanden sie sich. „Wohl auch ein Mann, der dazukam.“ „Aber kein Kampf, oder?“ „Nein, davon haben sie nichts erzählt.“ „Ist das alles?“ Wieder ein Nicken. „Dann müssen wir uns mehr nach Norden wenden. Wie sieht es mit dem Essen aus?“ Erneut wandte sich ihre Aufmerksamkeit ihrem nächsten Berater zu. „Unverändert, Treiske Treiske.“ Schon wieder. Seit einiger Zeit waren einige Mietglieder ihres Volkes dazu übergegangen, sie Führerin oder auch Große Führerin zu nennen. Sie versuchte dagegen zusteuern. Sie hatte sogar versucht, es zu verbieten, aber es schien jedoch sinnlos zu sein. „Nicht, Kvirik. Ich bin keine Treiske. Schon gar keine große. Ist dir schon etwas eingefallen.“ „Nein, wir fangen die Tiere des Walds, graben alle Wurzeln aus, die wir finden können. Die Würmer und Fliegen sind leider schon unter der Erde. Wenn der Winter kommt werden wir kaum noch etwas haben. Wenn wir eine Weile an einem Fluss bleiben könnten, könnten wir fischen. Andernfalls geht uns bald das Essen aus.“ „Wir werden eine Lösung finden. Noch geht es, oder? Wir müssen nur schnell vorankommen.“ Sie heuchelte Zuversicht, denn in Wirklichkeit glaubte sie nicht mehr daran, dass sie ihr Volk retten konnte.



Feen 2: Sheka, Breka, Mei-neke

Mittwoch, 27. August 2014, 10:35
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Imanahm war die Hochburg der Verlorenen und Verzweifelten. Hierher kamen alle, die keine Hoffnung mehr besaßen, die hatten fliehen müssen, die nicht mehr wussten, wohin sie sonst gehen sollten. Diese Stadt zog sie alle an, denn hierher kamen auch die Händler und Pilger. Viele Besucher bedeutete viele Bedürfnisse, die befriedigt werden mussten. Köche, Träger und Gastwirte standen auf der lichten Seite derjenigen, die diese Aufgaben übernahmen, Prostituierte, Mörder, Spione und Diebe auf der dunklen. Einige überlebten, verdienten ihren Unterhalt, bei anderen konnte man es kaum als Überleben bezeichnen, wenn sie auch nicht tot sein mochten. Viele mehr starben.

An Hunger.

An Kälte.

An Hitze.

Aber die meisten starben an der Stadt.

 

Sheka, die sich jetzt Mei-neke nannte, konnte sich bessere Orte für sich und ihre beiden kleinen Kinder vorstellen. Auch für die Geburt ihres Ungeborenen mochte es schönere Städte geben, aber auch schlechtere. Enk hatte ihr berichtet, dass es in dieser Stadt sehr gute Hebammen gab. Sie hoffte nur, dass sie, wenn es so weit war, noch das Geld haben würde, um sich diese Frauen leisten zu können. Bisher hatte sie Glück gehabt. Niemand hatte versucht sie zu berauben, wenn man von einem Taschendieb in einer kleinen Herberge absah. Der junge Mann hatte ihren Wanderstab zu spüren bekommen, nicht ihre bevorzugte Waffe, aber das Schwert, mit dem die meisten hochgestellten Frauen ihres Clans umzugehen lernten, wäre zu auffällig gewesen. Sie hatte ihr Schwert in ihrem Gepäck untergebracht. Enki oder Shek saßen meist darauf. Die beiden wussten nichts von dieser Klinge, denn selbst in ihrem Zuhause hatte sie sie immer in der Kammer unter dem Bett verborgen, eingewickelt in Tücher. Sie hatte es nur gelegentlich herausgeholt, um es zu ölen. Sie wusste, dass dieses Schwert sie verraten konnte, so wie Enk es gewusst hatte, als er sie ihr geschenkt hatte. Sheka hatte nie herausgefunden, wo die Klinge her kam. Trotzdem konnte sie sehen, dass sie gut gearbeitet war, konnte spüren, wie gut sie in der Hand lag. Die Waffe war schmucklos, nicht einmal eine Gravur. Ihr Ehemann hatte ihr gestanden, dass er eigentlich noch seine Liebe hatte einritzen lassen wollen, das Risiko, entdeckt zu werden, jedoch zu groß gewesen wäre. So hatte sie ihm selbst einen Namen gegeben. Enk hatte halb im Scherz „Bettleger“ vorgeschlagen, für die größte Tat, die es bisher begangen hatte. Sie hatte es stattdessen „Mannritzer“ genannt, ihm zum Trotz und nachdem, was sie hoffte, dass sie damit tun würde. Ein guter Name, fand sie, ein stolzer Name, den schon andere Klingen getragen hatten. Manchmal, wenn sie in den letzten Monaten neben dem Ges gegangen war, hatte sie das lange Paket unter dem Gepäck ertastet und sich nicht nur an ihren Mann, sondern auch an ihr Leben als Fürstin der Kariaks erinnert. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, aber in ihr entzündeten diese Erinnerungen eine Sehnsucht, die ihr das Herz zu verbrennen schienen.

So wertvoll ihr das Schwert war, es war doch nutzlos, solange sie es nicht an der Seite trug. Deshalb war sie im ersten Dorf, in dem man sie nicht kannte, zum Schmied gegangen und hatte sich drei Dolche gekauft. Der Mann war nur leidlich talentiert und die Waffen waren mehr überlange Brotmesser, aber sie würden ihre Aufgabe erfüllen, wenn sie sie benötigte.

Einen Dolch trug sie offen an ihrem Gürtel, einen unter ihrem Rock, einen dritten, kurzen, ohne Parierstange, band sie sich an den Unterarm. Dolche waren keine Schwerter und ihr Training an ihnen nur gering, sie zählte jedoch auf das Überraschungsmoment, den die beiden versteckten Dolche ihr gewährten.

Den Schmied hatte sie auf dem Weg verlassen, auf dem sie auch gekommen war, um später durch Gehölz und Felder ihren eigentlichen Weg fortzusetzen. Enk hätte ihn vermutlich umgebracht, verscharrt und die Schmiede abgebrannt. Vielleicht hätte er sogar die Nachbarn getötet, die sie hatten ankommen sehen. Mei-neke hatte noch nicht getötet und hoffte, dass es auch nicht so weit kommen würde.

Nun war sie jedoch in Imanahm. Diese Stadt war größer, als jeder Ort, den sie jemals gesehen hatte. Sie hatte von den Drachenfestungen gehört, die sich angeblich majestätisch an die Berghänge schmiegten. Es hieß, dass dort tausende von Menschen Platz finden könnten, genau wie in Imanahm. Mei-neke stellte sich jedoch eine solche Festung sauberer vor. Und auch schöner. Als ein Bauwerk, an dem nicht ständig neue Gebäude von Menschen angeheftet wurden, die sich keine Gedanken um die Stile ihrer Vorfahren gemacht hatten.

Auf der Wanderung waren sie an Fasanal vorbeigekommen. Sie hatten die Stadt nur umrundet und beobachtet, wie Menschen durch die großen Tore ein- und ausgingen. Sie hatte den Kindern von einem fahrenden Händler ein paar Honigstangen gekauft. Die beiden waren so glücklich gewesen. Aber die Stadt war ihr zu voll gewesen. Damals war sie noch Breka gewesen. Breka würde wohl nie bereit sein, eine solche Stadt zu betreten. Außerdem wusste sie, dass einige Händler aus Fasanal jenes Dorf regelmäßig besuchten, in dem sie die letzten Jahre gelebt hatte und dass sie doch nicht Heimat nennen wollte. Von einigen ihrer Bekannten dort hatte sie sogar gehört, dass sie schon einmal den weiten Weg gemacht hatten, um einen der größeren Tempel aufzusuchen. Deswegen hatte sie mit Enk besprochen, dass sie zur größten ihm bekannten Stadt wandern würden, weit weg von allen Menschen, die sie kannten.

Und nun waren sie hier. Ohne Arbeit, ohne feste Unterkunft, schwanger und mit zwei Kindern, die mit vier und fünf Jahren zu gebildet waren für Landeier. Sie selbst, die zu stolz für eine arme Bäuerin war. Mit zu viel Geld und einem Ges, als wären sie Diebe oder vertriebene Patrizier. Sie versuchte so gut es ging, ihren Wohlstand zu verheimlichen. Sie war jedoch fremd in dieser Stadt, besaß keinen Leumund, war eine einsame Schwangere mit zwei Kindern, was für viele bedeutete, dass sie nur eine Hure sein konnte.

Momentan übernachteten sie in einem kleinen Zimmer über dem Stall, in dem ihr Ges untergebracht war. Sie versuchte gerade das Tier zu verkaufen, es war jedoch zu abgemagert, um in dieser Stadt einen Käufer finden zu können. Außerdem stand der Winter bevor und Ges waren keine nützlichen Tiere in der Kälte.

Sie brauchte eine Arbeit und einen Ort, an dem sie ihre Kinder lassen konnte. Sie zog zu viel Aufmerksamkeit auf sich, wenn sie Geld ausgab, für das man sie nicht arbeiten sah. In dieser Stadt jedoch schien es für fremde Frauen kaum ehrliche Arbeit zu geben, vor allem nicht für Frauen, die kein Handwerk erlernt hatten. Und was die Kinder anging, schien es in dieser Stadt nur drei Möglichkeiten zu geben, die Kinder den Tag über zu beschäftigen. Die erste stand nur den gehobenen Schichten offen, den Patriziern, die ihre Kinder Kinderfrauen und Lehrern übergaben. Die zweite war den Kindern der Spezialisten vorbehalten, die sich wenigstens Zeitweise eine Schule leisten konnten und anschließend ihren Kindern ihr eigenes Können beizubringen versuchten. Die letzte mussten alle anderen wahrnehmen, und sie bestand schlicht daraus, die Kinder sich selbst zu überlassen. Enki und Shek waren klug, aber die Straße war kein Ort für die beiden kleinen, die es gewohnt waren, auf Feldern und in Wäldern zu spielen. Der Weg hatte die kleinen hart gemacht, sie Entbehrungen gelehrt und ihnen gezeigt, wie sie sich gegen einige Ungelegenheiten wehren konnten. Die Stadt war jedoch etwas anderes. Die Gefahr hier war verborgener und Kinder, die nicht wussten, wie sie danach Ausschau halten sollten, waren schnell für immer verloren. Mei-neke musste daher eine Arbeit finden, bei der sie ihre Kinder mitnehmen konnte. Hinzu kam, dass sie dringend eine richtige Wohnung benötigten. Der Stall war besser als die Straße. Die Ges und das gelegentliche Bataga hinterließen ihre Wärme im Stall. Und das, was sie darüber hinaus hinterließen, stank zwar, wärmte jedoch noch einmal mehr. Radin, der Besitzer des Stalls hatte sie aufgenommen, als Mei-neke ihm ihre Geschichte erzählt hatte: Wie sie mit ihrer ganzen Familie, ihrem Mann und den beiden Kindern, aus dem Norden gekommen war. Wie sie überfallen worden waren. Wie ihr Mann die Verbrecher aufgehalten hatte. Wie sie seitdem auf sich allein gestellt gewesen waren. Enk war diese Geschichte mit ihr mehrmals durchgegangen, so gut es in der kurzen Zeit möglich gewesen war. Auf dem Weg hatte sie sich immer wieder vorgestellt, wie sie diese Mär der einen oder anderen Person erzählte. Sie hatte geübt, aber bei den ersten Malen war sie kläglich mit ihren Lügen gescheitert. Glücklicherweise waren die Zuhörer nur Bauern und kleine Händler gewesen, denen ihre Erzählung gleichgültig gewesen war. Einige hatten ihr trotzdem Unterschlupf gewährt, andere hatten die Nase gerümpft und sie weggeschickt. Bei Radin war sie jedoch überzeugend gewesen. Vielleicht hatte geholfen, dass sie ihr Ges selbst versorgt hatte und bereit war, im Stall zuzupacken.

Dennoch stand sie jetzt in ihrem besten Kleid vor einem der großen Patrizierhäuser. Sie blickte an sich herunter bevor sie anklopfte. Sie mochte ihr Kleid. Der Stoff war aus feiner Wolle gewoben mit leuchtenden Farbfäden durchzogen, die ein schlichtes Muster ergaben und, wenn man genau hinsah, stilisierte Tiere formten. Dort wo sie herkam, wäre es der Neid vieler Frauen gewesen. Hier jedoch brauchte sie nur einmal auf die Straße zu blicken um zu sehen, dass sie jeder hier für ein Landei halten musste. Dies machte ihr schmerzhaft bewusst, wie wenig sie über die Sitten und Bräuche in dieser Stadt wusste. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie die Stelle einer Dienerin zur Genüge ausfüllen können würde, so fremd waren ihr die Umgangsformen, so anders der Codex, nach dem die Patrizier hier lebten, gegenüber dem, dem der Adel in ihrer Heimat folgte.

Sie ballte ihre Fäuste, bis die Gelenke weiß hervortraten. Mit einem Schlucken, dessen Klang an ein leises Grunzen erinnerte, versuchte sie, ihre Angst herunterzuschlucken. Ein letztes Mal strich sie ihr Kleid glatt und klopfte. Sie wiederholte den Vorgang noch zwei Mal, bis sich endlich die Tür öffnete.

Ein junges Ding, ihr erstes Blut war vermutlich vor nicht allzu langer Zeit geflossen, öffnete die Tür und blickte zu ihr auf und anschließend auf das Kleid.

„Womit kann ich euch dienen, Herrin.“ Sie verneigte sich verwirrt.

„Mögen die Götter deine Arbeit segnen. Aber ich bin keine Herrin. Ich bin auf der Suche nach Arbeit.“

Ein erneuter Blick auf ihr Kleid.

„Ich weiß nicht. Ich müsste die Hausdame fragen.“ Das Mädchen rührte sich jedoch nicht von der Stelle.

„Könntest du sie bitte fragen?“ Sie nickte und ging zurück in die Dunkelheit des Hauses, ohne die Tür hinter sich zu schließen.

 

Ihre Füße taten weh, ihre Schultern waren verspannt, sie war erschöpft. Erschöpfter als nach ihren Tagen der Wanderungen. Sie hatte acht Häuser besucht, keine große Zahl. Aber jeder Besuch hatte bedeutet, dass sie misstrauisch hereingelassen wurde, befragt, abschätzig betrachtet, geprüft, getestet und schließlich wieder, nicht zu unfreundlich, herausgeschoben wurde. Und immer der Blick auf ihr Kleid, das fremd, aber zu fein war, um einer Dienerin zu gehören, oder viel mehr, zu fein für eine ehrliche Dienerin war. Mit ihrer Geschichte gab sie wenigstens eine Erklärung, warum ihr Gebaren nicht dem einer Dienerin entsprach. Diese war jedoch nicht ausreichend, um die Hausdamen, Hausdiener oder wer auch immer sich bemüßigt fühlte, mit ihr zu sprechen, zu überzeugen. Angehört hatten sie sich die Geschichte alle. Sie hatten nachgefragt, nach Löchern und Ungereimtheiten gesucht und, soweit Mei-neke es sagen konnte, keine gefunden. Irgendwann hatte auch jeder nach ihren Befähigungen gefragt, als wäre es eine unwichtige Nebensache. Was konnte sie darauf schon sagen? Sie hatte einen eigenen Haushalt geführt, jedoch nichts, was mit den Häusern in dieser Stadt zu vergleichen war. Sie konnte kochen, aber nichts, was man hier gegessen hätte. Sie hatte Kinder betreut, aber es waren ihre eigenen. Wie sie es drehte und wendete, sie konnte ihnen keinen überzeugenden Grund geben, sie einzustellen. Vielmehr hatte sie das Gefühl, dass die Leute, die sie aushorchten, nicht einmal daran interessiert waren, jemanden einzustellen, sondern nur ihre Geschichte hören wollten. Und am Ende war immer dieser Blick auf das Kleid, einmal, wenn sie Luft holten, um sie auf die Straße zu setzen, ein letztes Mal, sobald sie vor der Tür stand.

Sie war erschöpft und niedergeschlagen. Ohne Hoffnung, dass ihr Leben sich jemals wieder zum Besseren wenden würde. Aber Hoffnung war etwas für jene, die kein Ziel, keine Verpflichtungen hatten. Bevor sie den Stall betrat atmete sie noch einmal tief durch, richtete sich auf und verhärtete ihre Miene. Morgen würde sie ein schlechteres Kleid anziehen und an die nächsten Türen klopfen.



Feen 2: Pethen und Hylei in Imanahm

Sonntag, 24. August 2014, 21:21
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Hylei hatte sich schnell erholt, auch wenn die Hälfte ihres Gesicht immer noch blau und grün war. Als sie in Imanahm eintrafen, war es abgeschwollen und erregte kein Aufsehen. Sie wirkte nicht mehr entstellt, aber die Verfärbungen hatten zusammen mit der Farbe, die sie sich beide ins Gesicht geschmiert hatten, den überraschenden Effekt, dass ihre Schönheit vernebelt wurde.

„Jetzt sind wir am Meer.“

„Noch nicht.“

Pethen deutete auf die große, uferlose Wasserfläche, die sie vom Hafen aus sehen konnte.

„Wenn das nicht das Meer ist, dann weiß ich nicht, was es davon unterscheidet. Woher weißt du, dass es nicht das Meer ist?“

„Ein Freund hat es mir erzählt.“

Mehr würde er nicht aus ihr herausbekommen, denn so verliefen ihre Gespräche fast immer, wenn man sie denn Gespräche nennen wollte. Wenn sie auf dem Weg waren, konnte er gut damit leben, nicht sprechen zu müssen. Sie liefen schnell, sie liefen lange, vor allem, nachdem er ihre Verfolger jetzt stärker spürte. So vergingen die Tage meist ohne ein Wort, bis sie abends ihr Lager bereiteten. Manchmal hatte er das Gefühl, dass Hyleis Hände mehr sagte, als ihr Mund, denn die meisten Anweisungen auf dem Weg waren Gesten, die den Weg wiesen oder zur Vorsicht mahnten. Während sie mit den Pilgern gewandert waren, hatte ihr Tag mit einem Lager in einem Stall geendet. Nachdem sie wieder alleine gewesen waren, hatten sie wieder auf frostigem Böden abseits der Straße geschlafen. Und sie hatten ihr Training wieder aufgenommen, aber auch da waren die Gespräche auf das Nötigste beschränkt gewesen. Was bedeutete, dass Pethen ihr viel erklärte, wenn es um Magie ging, und sie ihm knappe Anweisungen gab, wenn sie ihm Kämpfen beizubringen versuchte. In der Stadt mussten sie selbstverständlich von ihrem Training absehen, obwohl es schien, dass sie für den Moment mehr Zeit dafür haben würden, als die letzten Wochen und Monate zusammen. Zumindest, bis sie entschieden hatten, wohin sie als nächstes fliehen sollten.

Während sie die Wellen betrachteten, die von dem kalten Wind ans Ufer getrieben wurden, grübelte Pethen über ihre nächsten Schritte nach. Sie brauchten eine Unterkunft. In der Stadt fielen sie zu sehr auf, wenn sie sich einfach in einer Sackgasse ein Lager bereiteten. Aber noch viel dringender benötigten sie Nahrung, was wiederum bedeutete, dass sie Geld besorgen mussten.

Pethen war kein Dieb. An dieser Überzeugung hielt er fest, obwohl sie unterwegs mehrfach sogar in Höfe eingebrochen waren, um sich das nötigste zu besorgen. Eigentlich respektierte er den Besitz anderer. Bei Hylei war er sich andererseits sicher, dass ihr der Besitz anderer gleichgültig war. Oder nein, es sollte wohl richtiger heißen: der Besitz der normalen Menschen. Pethen konnte sich nicht vorstellen, dass sie etwas von ihm oder irgendeinem Feenling stahl noch wusste er von irgendwelchen Diebstählen in der Magierzuflucht.

Trotzdem hoffte er, dass sie nicht an diesem Ort auf die Idee kommen würde, auf Diebestour gehen zu können. Es gab zu viele Menschen, die sie sehen oder aufhalten konnten und vor allem konnten sie nicht einfach in den Büschen untertauchen, um den Verfolgern zu entkommen.

So blieben ihnen nur zwei Möglichkeiten, an Geld zu kommen, Betteln oder eine Arbeit annehmen. Betteln verlangte, dass sie sich an eine Straße oder einen Platz setzten und sich allen offenbarten. Ganz davon abgesehen, dass er sich nicht sicher sein konnte, ob Betteln in dieser Stadt erlaubt war, war ihm nicht wohl dabei, sich jedem zu zeigen und er konnte sich nicht vorstellen, dass Hylei es wollen würde.

Aber welche Arbeit konnten sie schon annehmen. Er war der Sohn eines kleinen Pachtbauern und von Hylei wusste er nicht mehr, als dass sie sich gut im Wald auskannte und besser mit Magie umgehen konnte, als jeder andere Schüler der Zuflucht. Vielleicht konnten sie irgendwo im Hafen beim Beladen helfen oder irgendeine andere ungelernte Arbeit übernehmen. Aber vermutlich müsste er sich eine andere Arbeit als Hylei suchen, was ihm ganz und gar nicht gefiel. Er gab sich die Schuld daran, dass sie vor wenigen Tagen von einigen Pilgern gefangen genommen worden waren. Seitdem fühlte er sich für sie verantwortlich. Und wenn er sie aus den Augen verlor, konnte er sie noch weniger beschützen, als er es bisher getan hatte. Allerdings durfte sie niemals erfahren, dass er auf sie aufzupassen versuchte. Sie würde ihn vermutlich nicht nur mit ein paar knappen aber verletzenden Worten davon kommen lassen.

Es stellte sich nur die Frage, warum sie hier blieben, an einem Ort, an dem es nur so von Priestern wimmelte, wo sie den Pilgern so leicht erneut begegnen konnten, wo die Gefahr, dass jemand Hylei für das erkannte, was sie war, größer war, als an jedem anderen Ort. Man hatte sie auf dem Weg hierher in einer Scheune enttarnt. Einem Ort, den sie mit niemandem außer ein paar Ges geteilt hatten.

Und die Frage war leicht zu beantworten: Es wurde Winter. Es hieß, im Süden wäre es wärmer, bisher hatten sie jedoch nichts davon gespürt. Vielleicht wurde es besser, wenn sie noch weiter liefen. Allerdings hätten sie dafür ein Boot finden müssen, dass sie über den Großen Jahm oder seine gewaltige Mündung bringen würde. Dabei war es nicht einmal schwer ein solches Boot zu finden, wie sie bereits herausgefunden hatten. Nur bezahlen konnten sie es nicht.

„Was machen wir jetzt?“

„Wir verstecken uns.“

„Du weißt, dass wir uns Geld beschaffen müssen?“

Hylei nickte, sah aber immer noch weiter aufs Wasser hinaus. Der Angriff auf sie, die Schläge durch den Söldner, ihr entkommen, nur dank der Gnade derselben Söldner, hatten ihre Spuren bei ihr hinterlassen, mehr als nur die abheilenden Schwellungen, die vielleicht einige ihrer am wenigsten schmerzhaften Erinnerungen waren.

Sie versuchte nicht ihrem Weggefährten die Schuld für diese Schmerzen zu geben. Er war jung, unerfahren und, wenn es um etwas anderes als die Magie ging, ein Idiot. Seine Kampfübungen machten zwar Fortschritte, wenn er jedoch nicht auf seine Magie zurückgreifen konnte, war er nutzlos. Wenn Meister Zelon ihr nichts verheimlicht hatte, hatte er bisher noch niemanden getötet und Hylei glaubte nicht, dass er es konnte. Manchmal fragte sie sich, warum sie ihn überhaupt mitschleppte. Wenn er nicht immer noch mehr über Magie wissen würde als sie, sie hätte ihn bereits am Wegesrand liegenlassen.

Hylei gelang es ein weiteres Mal, wie auch schon die letzten Tage, nicht zu weinen.

 

Wie Pethen vermutet hatte, wollten die Meister im Hafen einer Frau keine Arbeit geben. Es hatte nur noch gefehlt, dass sie sie ausgelacht hätten. Er selbst hingegen wurde gerne beschäftigt, weil er billig war und die Arbeitskräfte knapp wurden. Jemand hatte anscheinend viel Geld auf den Tisch gelegt, um eine größere Zahl Schiffe bauen zu lassen, und in den Wintermonaten vermieden viele Männer die Knochenarbeit am Wasser, wenn sie es sich irgend leisten konnten.

Der Schiffbau sorgte am Ende auch für eine Anstellung für Hylei, die bei einem Seilmacher unterkam. Beides waren Arbeiten, die kaum das täglich Brot einbrachten, aber dafür sorgten, dass sie ein Dach über dem Kopf hatten, wobei der Feenling es besser getroffen hatte, da sie bei einem Meister im Haushalt unterkam und Pethen nur in einer Gemeinschaftsunterkunft in einer der Baracken. Er wollte es ihr aber nicht neiden, war er doch dankbar dafür, dass sie beide so über den Winter kommen würden. Nur fragte er sich, wie sie es schaffen würde, unentdeckt zu bleiben. Wie konnte sie über Monate verbergen, wie schön sie war, wenn sie beim letzten Mal schon nach einer Woche durchschaut worden waren?

Wichtiger für ihn war jedoch, wie er sie dazu bringen konnte, ihm wieder zu vertrauen?

 



Feen 2: Enk kehrt zurück

Freitag, 22. August 2014, 21:04
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Er war wieder auf dem Weg nach Imanahm. Er hatte nicht sofort seinen Karren wenden können, nachdem die Karawane an ihm vorübergezogen war. Lanei hatte immer noch in seinem Versteck unter den Kisten gelegen. Enk hatte ihn schlechterdings einfach aussetzen können, was er bedauerte. Lanei schien ein anständiger Kerl gewesen zu sein, aber das Risiko, dass er irgendjemandem von seiner Flucht erzählen würde, war einfach zu groß gewesen. Enk hatte ihn schnell getötet, so schmerzlos, wie es mit einem kleinen Messer möglich war. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich dabei nicht wohl gefühlt. Normalerweise konnte er sich ein Opfer in Agonie auf dem Boden wälzen sehen, ohne etwas dabei zu empfinden. Seitdem er selbst Frau und Kinder zurück gelassen hatte, die jetzt ohne ihn zu Recht kommen mussten, verband ihn etwas mit Männern wie Lanei. Deswegen musste er zum ersten Mal an diejenigen denken, die durch seine Taten ohne einen geliebten oder ihnen wichtigen Menschen auskommen mussten.

Er hatte dem großen Mann vielleicht hundert Schritte vom Weg entfernt eine Luftbestattung gegeben. Es war riskant und er hätte auch die Zeit gehabt, ihn zu begraben. Aber in Ermangelung der Werkzeuge und in Anbetracht dessen, dass er seinen Karren dafür eine ganze Weile hätte unbewacht am Wegesrand stehen lassen müssen, hatte er die schnellste Methode gewählt, die Leiche zu entsorgen.

Auf dem Weg zurück zur Stadt hatte er die Kisten mit verschiedenen Waren gefüllt, die er günstig erwerben konnte. Es war besser, in der Stadt eine gewisse Tarnung aufrechterhalten zu können, denn diesmal sah sein Plan weniger elegant aus und sein Aufenthalt mochte länger dauern, als es ihm recht sein konnte.

Er wollte Estron finden, deswegen war er ursprünglich nach Imanahm gekommen. Denn hier wurden alle Verhörprotokolle der Priester Veshtajoshs gelagert. Auf diese Weise hatte er von Lanei erfahren, dem man unter der Folter entlockt hatte, dass Estron, der Keinhäuser, ihn besucht hatte. Enk kannte den Mann, war einst mit ihm gewandert, aber das war nicht das eigentlich Interessante gewesen. Lanei hatte etwas gesagt, dass für die Priester anscheinend nicht wichtig gewesen war. Gründlich wie sie waren, hatten sie es trotzdem notiert. Es war so eine Kleinigkeit, dass selbst er es beinahe überlesen hatte: Der Besucher hätte sich mit einem neuen Freund treffen wollen, jemand wichtigem, wie Lanei an anderer Stelle gesagt hatte. Soweit war es nicht bemerkenswerter als andere erzwungene Geständnisse gewesen. Nur dass Lanei beschrieben hatte, wie aufgeregt Estron gewesen sein musste, hatte Enks Denken angetrieben. Estron war immer neugierig und gespannt auf alle neuen Begegnungen gewesen. Wenn jemand, der ihn kannte, jedoch betonte, dass der Keinhäuser aufgeregt war, dann hatte dies etwas zu bedeuten.

Und dann war er Estron auf der Straße begegnet. Er wusste, dass auch sein alter Weggefährte ihn erkannt hatte. Trotzdem hatten beide kein Wort gesagt. Enk wusste, warum er selbst still geblieben war, hätte er doch ansonsten seine Verkleidung verraten. Aber Estron hatte das Gespräch ebenfalls vermieden, obwohl nichts zwischen ihnen stand, soweit Enk es wusste.

Doch wichtiger an dieser Begegnung war gewesen, dass sie überhaupt stattgefunden hatte. Natürlich war es nicht unmöglich, dass man sich ein zweites Mal im Leben begegnete. Aber mit dem Verdacht, den Enk hegte, und all den anderen Umständen seiner Reise, war er sich sicher, dass dies kein Zufall sein konnte. Es waren Dinge in Bewegung geraten, von denen Enk wusste, dass er keine Kontrolle darüber hatte, und sowohl Estron als auch er selbst wurden von ihnen mitgerissen. Er zweifelte nicht daran, dass sie beide auch selbst neue Anstöße geben würden, aber wer waren sie schon, wenn sie sich mit den Drachen messen mussten, die ihn zu einem Teil ihres Plans gemacht hatten. Ein Gedanke, der Enk nicht gefiel, der ihn aber bereits seitdem er seine Familie zurückgelassen hatte, verfolgte. Am liebsten wäre er geflohen, hätte sich versteckt, denn das, was die Drachen bezweckten, konnte nichts Gutes bedeuten, weder für ihn selbst, noch für die Völker, die in ihrem Herrschaftsbereich lebten. Aber gleichgültig, wie groß diese vorgestellte Gefahr sein mochte, die reale Gefahr für seine Familie war größer.

So machte er weiter und dachte an seine Frau und seine beiden Söhne, wann immer er sich einen ruhigen Augenblick zu gönnen wagte. Er hatte wenig Hoffnung, seinen Auftrag zu erfüllen. Selbst wenn es ihm gelang, Shaljel Githon zu finden – und um niemand anderen konnte es sich bei Estrons besonderen Freund handeln – dann würde er doch versagen, denn gegen einen Feen konnte er nicht gewinnen. Nach allem, was man wusste, schliefen Feen nicht, waren immun gegen Gifte, bewegten sich schneller und waren stärker als jeder Mensch. Außerdem hieß es, dass sie große Magier seien. Bei Vielem von dem, was man über die Feen sagte, konnte Enk natürlich nicht genau wissen, ob es wahr war, seine einzige Begegnung mit einem Feen hatte ihm jedoch klar gemacht, dass er ihnen körperlich aussichtslos unterlegen war. Ein Hinterhalt mochte ihm den entscheidenden Vorteil verschaffen, doch eigentlich hoffte er nur, dass die Drachen ihr Wort halten würden und seine Familie verschonen würden.

Gleichgültig, ob er seinen Auftrag zu Ende führte oder starb, seine Familie würde sicher sein.

Die Wache am Stadttor von Imanahm meinte, den zottigen Mann auf seinem Karren wiederzuerkennen, wich aber dem grimmigen Blick aus, der ihr vom Kutschbock zugeworfen wurde. Das war nicht der schusselige Bauer, der vor vielleicht zwei Wochen die Stadt verlassen hatte. Er blickte dem Karren nach, der in Richtung des Marktplatzes verschwand. Sein herausströmender Atem war so laut, dass sein Kollege, der sich gerade um eine kleine Pilgergruppe gekümmert hatte, zu ihm hinüberblickte. Der Wächter erwiderte den Blick und man konnte in seinem Gesicht lesen, dass er meinte, nur knapp dem Tod entronnen zu sein