Feen 2: Estron findet eine Unterkunft
Eigentlich hätte es niemanden überraschen sollen, dass Estron selbst in Imanahm jemanden kannte. Trotzdem hätte vermutlich nicht einmal Shaljel geahnt, dass dieser Freund eine vornehme Dame in einem vornehmen Haus mit Bediensteten und einer unnötig großen Zahl Zimmern war.
„Oh Meister Estron, wie konntet ihr hierher kommen? Wisst ihr nicht, dass es gefährlich ist?“ Dame Salvina war in den kleinen Raum gelaufen gekommen, so schnell es ihre Würde erlaubte. Eine Dienerin hatte die kleine Gruppe in ein bescheidenes Zimmer gleich beim Dienstboteneingang gebracht und dabei missbilligend auf den Chuor geblickt, als würde er Läuse mit ins Haus bringen. Dass der Chuor vermutlich der sauberste unter ihnen war, konnte sie nicht wissen. Kurz nachdem sie davongeeilt war, um ihrer Herrin von den Besuchern zu berichten, erschien prompt eine weitere Dienerin, die verlegen etwas Wasser anbot, ob als Getränk oder zum Waschen wusste sie wohl selber nicht. Aber jedem war bewusst, dass ihre eigentliche Aufgabe darin bestand, auf die schmutzigen Besucher aufzupassen.
Estron lächelte über Salvinas Auftritt, die sich daraufhin dem Mädchen zuwandte, welches immer noch den Wasserkrug in den Händen hielt. „Leilena, gutes Kind, lauf bitte zum Majordomus und richte ihm aus, dass wir fünf Gäste haben. Er soll alles herrichten für ihren Aufenthalt. Und sag dem Herrn Bescheid.“
Als das Mädchen die Tür hinter sich verschlossen hatte, umarmte Salvina den Keinhäuser und blieb länger in seinen Armen, als es nötig gewesen wäre. Als sie sich löste konnte sie ihr Naserümpfen nicht ganz verbergen.
„Seid ihr lange unterwegs gewesen?“
„Lange und wir sind weit gewandert. Es tut mir leid, dass wir bei dem Wetter nicht so sehr auf unser Äußeres geachtet haben.“
„Dagegen werden wir schon etwas tun. Aber wo sind meine Sitten geblieben. Ihr müsst mir unbedingt eure Freunde vorstellen.“ Sie wandte sich an die anderen: „Und ich hoffe, dass ihr auch meine Freunde werdet. Nein, eigentlich habe ich keine Zweifel, dass wir Freunde werden. Bitte, Meister Estron, stellt uns einander vor.“
Zur Überraschung seiner Schüler gelang Estron eine fast formvollendete Verbeugung, wie sie wohl jedem Patrizier-Foppen Imanahms gut zu Gesicht gestanden hätte, und mit schönen Worten stellte er Shaljel, Streiter, Tro-ky und Kam-ma vor. Er erzählte von ihren Taten, wie viel sie gemeinsam gesehen und erlebt hatten, was für großartige Menschen – und in einem Fall Wolfsmensch – sie waren. Er schmeichelte und lobte und jeder seiner Freunde reagierte anders auf seine Worte. Tro-ky wandte sich zu dem kleinen Fenster, Kam-ma wurde rot und blickte zu Boden. Shaljel grinste und lachte mehrmals. Und Streiter blieb stoisch an seinem Platz stehen, als wenn er gar nichts hören würde. Die Dame Salvina tat es Shaljel gleich, auch wenn ihr Wohlwollen gegenüber ihren Gästen mit jedem Wort zunahm. Als Estron geendet hatte, nahm sie jeden von ihnen in den Arm, selbst Streiter, der weiterhin steif blieb.
Wenig später fanden sich die Gäste in der Waschküche wieder. Salvina hatte darauf bestanden, dass sie ihr Bad nehmen sollten, aber Estron, der wusste, wie lange die Hausangestellten benötigen würden, die große Wanne zu füllen, hatte die anderen hierher getrieben. Den Weg hatte er aus dem eingeschüchterten Mädchen herausgekitzelt, der er überschwänglich für ihre Freundlichkeit gedankt und auf diese Weise die Einwände ihrer Herrin übertönt hatte. Von ihr erhielten sie auch Tücher zum Waschen und Abtrocknen. Als jedoch Salvina ihn ein letztes Mal bedrängt hatte, doch vernünftig zu sein, nahm er wenigstens die Seife an, die kostbarer war, als alles, was er seit langem in den Händen gehalten hatte, vielleicht mit Ausnahme eines kleinen Rindenstücks, auf das acht Leute uriniert hatten.
Während sie sich noch wuschen, kam ein Diener herein, der mehrere dünne Mäntel auf einen Hocker legte. Shaljel betrachtete sie sich lachend.
„Was ist das denn? Da kann ich ja auch nackt gehen.“
„Ich dachte, darüber hätten wir uns schon unterhalten, Shaljel?“
„Ist doch nur ein Scherz. Ich weiß auch, dass ich hier nicht nackt herumlaufen kann. Aber sieh dir mal den Stoff an. Und der Schnitt. Ein Windstoß und man ist mehr oder wenig nackig.“ Er warf sich den Mantel über, ohne sich abzutrocknen. Anschließend führte er eine schnelle Drehung aus, so dass sich der Saum hob und man kurz seine Nacktheit erkennen konnte. Kam-ma lachte. Auch Tro-ky konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Estron hingegen blickte Shaljel nur missbilligend an.
„Es sind Hausmäntel. Sie sind nur für das Haus gedacht.“
„Warum?“
„Damit wir hier nicht nackt sind.“
„Nein, warum macht jemand einen Mantel, den man nur im Haus trägt? Sowas habe ich noch nie gehört.“
„Ich kann es dir nicht genau sagen. Es ist wohl praktisch, Kleidung zu haben, die nur für drinnen ist. Vermutlich muss man die dann nicht so oft waschen.“
Shaljel blickte ihn mit einem ungläubigen Blick an. „Du weißt es auch nicht.“
„Nein, ich weiß es auch nicht. Aber wir ziehen sie jetzt an und uns wird trotzdem wärmer sein als die gesamten letzten Monate. Ich darf nur nicht daran denken, dass da Diener im Keller schuften müssen, damit wir es warm haben.
„Stimmt, denk nicht daran, sonst verdirbst du es noch mit unseren Gastgebern. Woher kennst du sie eigentlich?“
„Ich bin ihnen auf einer Reise begegnet. Man konnte ihre ehelichen Probleme bis vor die Gastwirtschaft hören.“
Shaljel nickte nur. Inzwischen hatte er Estrons Neigung kennengelernt, sich in Probleme anderer einzumischen. Allerdings war er wohl nicht derjenige, der sich ein Urteil darüber bilden sollte. Er hatte die letzten Jahrhunderte, nein, Jahrtausende, nichts anderes getan.
Streiter, den es weniger drängte, sich einzumischen, als alles im Stillen zu beobachten, konnte die Neugier von Estrons Schülern riechen. Sie waren immer begierig, alles über das Leben ihres Meisters zu erfahren, so genau, wie irgend möglich. Und Estron neigte dazu, nur spärlich von seiner Vergangenheit zu erzählen. In Streiters Augen war es allerdings recht deutlich, was geschehen sein musste, auch wenn er die Details nicht kannte. Streiter, der immer vermied, etwas von seiner Vergangenheit preiszugeben, konnte sehr gut damit leben, die Details der Vergangenheit eines anderen nicht zu kennen.
„Was ich dich schon immer fragen wollte“, versuchte Estron das Thema zu wechseln, „ warum nimmst du eigentlich immer eine männliche Gestalt an?“
Shaljel legte den Kopf schief und betrachtete den Keinhäuser. Kam-ma und Tro-ky waren zu erstaunt, um etwas anderes zu tun, als Blicke zu wechseln.
„Das stimmt doch gar nicht. Ich habe auch schon weibliche Formen angenommen. Warum fragst du?“
„Geht mir einfach seit geraumer Zeit nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe dich nur als Mann erlebt, aber ich weiß von Anai …“
„Ja ja ja, Anai ist eine alte Plaudertasche. Männliche Körper sind meist einfach praktischer.“
Estron nickte traurig. Wie hätte ihm auf seinen Wanderungen nicht das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern auffallen können. Es bestand bei allen Völkern, bei allen Rassen, in die eine oder andere Richtung. Nicht immer waren Frauen die Unterdrückten. Unter den menschlichen Völkern hatte Estron jedoch nur wenige gefunden, bei denen die Frau dem Mann als ebenbürtig betrachtet wurde, wenn nicht sogar überlegen. Und selbst wenn die Menschen so dachten, bedeutete das nur selten, dass sie auch so handelten. Männer besaßen bei den meisten Völkern mehr Freiheiten, das war eine Tatsache und Shaljel nutzte sie nur aus. Estron hätte es sich denken können. Er hatte sich vermutlich nur nie vorstellen können, wie bedeutungslos die unterschiedlichen Geschlechter für einen Feen waren, der beide und keines von ihnen besaß.
Wahrscheinlich würden ihn seine Schüler später nach seiner seltsamen Frage aushorchen und er würde sie mit dem Sexualleben der Feen in Staunen versetzen.
Wenig später standen die fünf vor der Waschküche, die Menschen in ihren Hausmänteln und Filzpantoffeln an den Füßen, der Chuor mit dem Stoff als Lendenschurz um seine Hüfte gebunden. Shaljel und die beiden jüngeren kicherten verschämt, weil sie sich albern in dem unpraktischen Stoff vorkamen. Salvina, die offensichtlich vor der Tür gewartet hatte, sah sie tadelnd an, konnte aber ebenfalls ein Lächeln nicht verbergen, als sie ihre Gäste betrachtete.
„Kommt, mein Gatte wartet bereits auf euch. Ich habe versucht viel Gemüse auftragen zu lassen. Aber die Jahreszeit, ihr wisst schon, da kann man nicht viel machen. Da ist es nicht mehr ganz so frisch.“ Sie wandte sich an den Chuor, der sie fast um drei Köpfe überragte. „Du isst Fleisch? Wir haben ein wenig Wild. Mein Gatte kann rohes Fleisch nicht ausstehen, deswegen ist es gekocht. Ist das in Ordnung.“ Streiter, der sich sichtlich überrumpelt fühlte, nickte. Salvina nahm Estron am Arm und führte ihn durch das Haus zum Saal, wo ein großer Tisch mit kostbarem Geschirr auf wertvollen Tischdecken eingedeckt stand. Auf dem Tisch stapelte sich mehr Nahrung, als sie auf ihrer Wanderschaft in einer Woche gegessen hatten. Shaljel, aber auch Tro-ky und Kam-ma, beobachteten, wie der Keinhäuser vor ihnen herging und offensichtlich sein Unwohlsein ob dieses Überflusses zu verbergen suchte.
Ein Mann erhob sich vom Ende des Tisches. Er hatte vielleicht vierzig Ringfüllen erlebt, vielleicht auch ein paar mehr. Seine Leibesfülle machte es schwer, sein Alter zu schätzen, aber vermutlich war er nicht viel Älter als seine Frau, der er einen verliebten Blick zuwarf.
„Estron, Meister. Mein Herz tat einen Sprung, als mein Weib mir ausrichten ließ, dass ihr hier wäret. Niemals hätten wir gehofft, euch noch einmal zu Gesicht zu bekommen.“
Er ergriff die Hand des Keinhäusers und zog ihn an sich heran, um ihn zu umarmen. Widerstand war kaum möglich und Estron ließ es geschehen. So war Meister Greivano: er liebte es, seine Gefühle in schöne Worte zu kleiden, meinte aber auch jedes einzelne, wenn er unter Freunden war. Wenn man ihn nur so kannte, wurde man aufs Übelste überrascht, wenn man mit ihm zu feilschen begann, denn seine Worte blieben weiterhin blumig, verschleierten dann jedoch seine Absichten. Estron konnte schlecht mit dieser Form der Unehrlichkeit umgehen, mochte den beinahe runden Mann trotzdem sehr gerne.
„Es sieht so aus, als wäre es euch gut in den letzten Jahren ergangen.“ Er blickte auf den großen Bauch, den Greivano daraufhin zufrieden tätschelte.
„Meint ihr? Ach wem will ich etwas vorgaukeln? Ja, es geht uns großartig. Dank eurer Hilfe. Ohne euch wären wir nicht so glücklich, wie wir es jetzt sind.“
„Das freut mich zu hören. Und ich danke dir, auch im Namen meiner Freunde, dass wir hier für eine Nacht unterkommen können.“
„Das ist doch selbstverständlich! Aber setzt euch doch erst einmal. Ihr seht aus, als hättet ihr lange, hungrige Fahrten hinter euch gebracht.“ Und wieder konnte Estron dem kleinen Mann nicht widerstehen und ließ sich auf einen der prunkvollen Stühle drücken. Auch die anderen fanden sich schnell vor ihren Tellern wieder, die sich fast wie von Geisterhand füllten.
Die beiden Schüler hatten in den letzten Jahren gelernt, mit wenig auszukommen, was aber nicht bedeutete, dass es ihnen deswegen leichter fiel, dem Überfluss, der sich ihnen an dieser Tafel bot, zu widerstehen. Im Gegenteil aßen sie bis sie satt waren und anschließend noch eine ganze Weile mehr. Sie konnten sich nicht daran erinnern, jemals so viel gegessen zu haben und, wenn man ihren Schwüren in der anschließenden Nacht glauben durfte, würden sie sich auch niemals wieder den Magen auf diese Weise überfüllen.
Trotzdem gingen alle sehr glücklich zu Bett, bis auf Shaljel, der Estron etwas zuflüsterte, kurz mit der Hausherrin sprach und wenig später das Haus verließ.
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