Feen 2: Neues von den Jaltus

Donnerstag, 28. August 2014, 08:33
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Einige Jägerrudel waren nicht zurückgekommen. Irish wusste, dass damit zu rechnen gewesen war. Sie waren in einem fremden Gebiet, mit fremden Gefahren und fremden Gegnern. Ihr Volk war weit gewandert, um hierher zu gelangen, und sie hatten kaum einen Tag hinter sich, an dem nicht einer von ihnen gestorben war. Sie vermehrten sich schnell, aber die vielen kleinen Kinder machten die Reise nicht leichter und meist waren sie es, die starben. Das Weinen ihrer Mütter und Väter war oft das einzige, was von den erschöpften Jaltus zu hören war. Diese ganze Flucht war ein einziger Alptraum. Und Irish kannte sich inzwischen mit Alpträumen aus. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal geschlafen hatte, ohne von dem feurigen Ansturm der Drachen zu träumen, und von ihren Opfern, deren Körper sich in den Flammen verdrehten, wie es kein lebender Körper konnte. Noch träumte sie nicht von dieser Flucht. Aber sie durchlebte sie, Tag für Tag. Und alle blickten auf sie, Irish, die die älteste war. Sie hielten sie für weise. Sie hielten sie für ihre Führerin, ihre Retterin. Die ganzen letzten Monate hatte sie gehofft, dass sie vielleicht weise werden würde. Als Führerin hätte sie Entscheidungen treffen müssen, die ihr Volk retten, in Sicherheit bringen würde. So wie sie es jedoch sah, brachte sie die letzten Jaltus, die Überlebenden des Angriffs der Drachen, nur noch in immer größere Gefahr. Zum einen gab es hier zu viele Menschen. Sie kannten Menschen, Oh ja, sie kannten sie. Von allen Völkern, auf die sie jemals getroffen waren, mit denen sie Handel getrieben hatten und vor denen sie sich hatten verbergen müssen, waren die Menschen das uneinsichtigste, skrupelloseste und bornierteste. Vermutlich gab es auch gute und einsichtige unter ihnen, die nicht alle Jaltus verdammten, weil sie ihren Duft nicht ertragen konnten. Sie hatte von einem gehört, der sogar mit in die Städte gekommen sein sollte, aber bei den Nasen der Menschen konnte sie es nicht recht glauben. Wie brachte man ein ganzes Volk, jedes Mitglied mit einem eigenen Duft, an den Höfen, Dörfern, Städten und Straßen der Menschen vorbei? Es blieb nicht aus, dass sie entdeckt wurden, wenn auch nur vereinzelt. Natürlich zogen sich die einzelnen Jaltus immer gleich zurück. Aber nicht selten hatten sie bereits etwas mitgenommen. Irish, konnte es ihnen nicht verübeln. Sie waren alle hungrig. Sie konnte es den Menschen dann aber auch nicht verübeln, wenn sie verängstigt und wütend waren. Ihr Volk war jedoch klein und flink. Sie waren schwer zu finden, wenn sie nicht gefunden werden wollten und sich die geeigneten Verstecke suchen konnten. Doch wie sollten sie so viele Verstecke finden? Und mit jedem Mal, dass ein Mensch sie entdeckte, wurde die Gefahr größer, dass es sich herumsprach, dass irgendwelche Anführer der Menschen eins und eins zusammenzählten, dass man begann, sie zu verfolgen. Irish hatte ihr Lager an einem Bach aufgeschlagen. Nicht ganz ungefährlich, denn Wasser lockte die Lebenden. Die Kundschafter hatten jedoch den Lauf hinauf- und hinuntergespäht und keine Siedlung entdecken können. Als Wasserweg kam der Bach ebenfalls nicht in Frage, so dass die Jaltu sich recht sicher fühlte. Um ihr Lager herum legten immer viele andere Jaltus ihre eigenen Schlafstätten an. Wenn Irish es richtig verstand, hofften sie, durch ihre Nähe an ihrem Glück teilzuhaben. Welches Glück sie meinten, würde ihr wohl ewig ein Rätsel bleiben. Allerdings hielten sich auch einige Läufer und Rudelführer beständig in ihrer Umgebung auf, so dass immer wieder ihre Aufmerksamkeit gefordert wurde. „Wie weit willst du uns noch führen?“ „Ich weiß es nicht, Eikirs. Bis wir eine neue Heimat finden.“ „Aber hier sind nur Menschen.“ „Ich weiß Eikirs.“ „Wenn das jetzt immer weiter geht? Wenn jetzt überall Menschen sind?“ „Sie können nicht überall sein. Wir werden einen Ort finden.“ Sie war diese Gespräche leid. Am liebsten hätte sie Eikirs nur angequietscht. Aber selbst wenn es bei einigen Rudeln und sogar Familien üblich war, sich so lange anzuquietschen, bis ein Konflikt aus purer Erschöpfung beendet wurde, hatte sie in ihrer Zeit als Anführerin ihrer Jagdgruppe begriffen, dass damit nur selten etwas gelöst wurde. Stattdessen zuckten ihre Schnurhaare einmal kräftig, was viele inzwischen als ein Zeichen ihres Unmuts zu erkennen gelernt hatten. „Last uns erst Mal den Tag richtig beginnen“, beendete Irish das Gequengel. „Möchte jemand etwas berichten?“ Sie ließ ihren Blick in die Runde schweifen. Niemand schien den Anfang machen zu wollen. „Dann halt erst mal das übliche. Wie viele Tote?“ Alle Augen wandten sich Tsyrp zu, die die undankbare Aufgabe hatte, das Lager nach solchen Informationen abgehen zu müssen. Sie sah erschöpft aus, selbst wenn sie inzwischen gelernt hatte, einen guten Teil ihrer Arbeit zu delegieren. „Mhm, ja, es war eine ruhige Nacht. Ich habe zweiunddreißig gezählt, die ins Dunkel zurückgekehrt sind.“ „Wie viele von ihnen Kinder?“ „Alle bis auf einen.“ Irish nickte traurig und stimmte einen kurzen Gesang aus Piepstönen an, in den die umstehenden einfielen. „Hast du mehr?“ Tsyrp nickte: „Nachdem auch die letzten aufgeschlossen haben, sind seit vorgestern einhundert und zwei Babys zur Welt gekommen.“ „Schon bereinigt?“ als Tsyrp zum ersten Mal dieses Wort verwendet hatte, hätte Irish ihr am liebsten in die Schnauze gebissen. Es machte aus den gestorbenen Jaltus Zahlen. Doch schon nach einer Woche hatte Irish begonnen, genauso zu sprechen. Manches ließ sich nur ertragen, wenn man es als Zahlen betrachtete. „Nicht endgültig. Es könnte sich noch ändern.“ Und wenn man sich gerade in die Sicherheit der Zahl begeben hatte, wurde man von der Zählerin daran erinnert, dass es sich eben doch um Jaltus handelte, die sich nicht so einfach zählen ließen. „Danke, Tsyrp. Du hast wie immer gute Arbeit geleistet.“ Irish schnüffelte demonstrativ in Tsyrps Richtung. Die Zählerin erwiderte die Geste in Dankbarkeit. Die Anführerin richtete ihre Aufmerksamkeit auf die drei Rudelführer, die für die Kundschafter verantwortlich waren. „Wie viele sind nicht zurückgekommen?“ Sie hasste diese ganze morgendliche Prozedur der Berichterstattung. In ruhigen Momenten wusste sie, dass ihr Volk von ihr erwarten würde, dass die toten Babys am schwersten auf ihr lasten mussten. Aber jedes verlorene Kundschafterrudel wog schwerer auf ihr als 30 tote Kinder. Vielleicht, weil sie sich ihnen verbunden fühlte. Die drei Rudelführer tauschten ein letztes Mal blicke untereinander, bevor Yepri, der einzige Mann unter ihnen, antwortete. „Alle haben sich zurückgemeldet.“ Irish kannte diese Blicke. Sie hatte sie bei ihren Jägern gesehen, wenn sie etwas nicht erzählen wollten, dass offensichtlich wichtig war. Sie war sich sicher, dass niemand ihr Ohrenzucken entgehen konnte, und hoffte, dass die drei diese Aufforderung verstanden. Einen Moment lang wanden sie sich noch, brachen dann jedoch ein. „Cseirps Rudel ist gesehen worden.“ „Cseirps hatte den Süden?“ Schüchternes Nicken. „Was ist passiert?“ „Ein Menschenkind ist aus einem Baum gefallen und hat sie gesehen. Es ist wohl nichts passiert.“ „Nur das Kind?“ Erneut wanden sie sich. „Wohl auch ein Mann, der dazukam.“ „Aber kein Kampf, oder?“ „Nein, davon haben sie nichts erzählt.“ „Ist das alles?“ Wieder ein Nicken. „Dann müssen wir uns mehr nach Norden wenden. Wie sieht es mit dem Essen aus?“ Erneut wandte sich ihre Aufmerksamkeit ihrem nächsten Berater zu. „Unverändert, Treiske Treiske.“ Schon wieder. Seit einiger Zeit waren einige Mietglieder ihres Volkes dazu übergegangen, sie Führerin oder auch Große Führerin zu nennen. Sie versuchte dagegen zusteuern. Sie hatte sogar versucht, es zu verbieten, aber es schien jedoch sinnlos zu sein. „Nicht, Kvirik. Ich bin keine Treiske. Schon gar keine große. Ist dir schon etwas eingefallen.“ „Nein, wir fangen die Tiere des Walds, graben alle Wurzeln aus, die wir finden können. Die Würmer und Fliegen sind leider schon unter der Erde. Wenn der Winter kommt werden wir kaum noch etwas haben. Wenn wir eine Weile an einem Fluss bleiben könnten, könnten wir fischen. Andernfalls geht uns bald das Essen aus.“ „Wir werden eine Lösung finden. Noch geht es, oder? Wir müssen nur schnell vorankommen.“ Sie heuchelte Zuversicht, denn in Wirklichkeit glaubte sie nicht mehr daran, dass sie ihr Volk retten konnte.


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