Feen 2: Ohnfeder erlebt verschiedene Gefühle

Dienstag, 19. August 2014, 22:45
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Ohnfeder erholte sich nur langsam von den Strapazen vor zwölf Tagen. Niemand konnte es ihr verdenken, auch wenn die anderen Frauen sie immer wieder dazu zwangen, ihre Kinder anzulegen und zu stillen. Natürlich konnte sie unmöglich sechs Babys alleine ernähren, auch wenn die beständigen Flecken von überschüssiger Milch auf ihrem Bett etwas anderes zu behaupten schienen. Ihre Kraft reichte dennoch kaum aus, um eigenständig im Haus herumzugehen.

Treureigen war die ganze Zeit bei ihr geblieben. Sie fehlte ihren Eltern auf dem Hof, aber diese besonderen Umstände machten ihre Abwesenheit verzeihlich und die Hilfe, die sie ihnen senden konnte, sorgte dafür, dass die Arbeit trotzdem getan wurde. Denn Treureigen besaß inzwischen einen gewissen Einfluss unter den Aleneshi, nicht nur unter denen, die zu dieser Gemeinschaft gehörten, sondern auch unter denjenigen, die den Pilgerpfad bereisten und sogar bei den Unterirdischen. Es fiel ihr immer noch nicht leicht, ihre alte Gewohnheit, sie Zurückgebliebene zu nennen, abzulegen, da sie jedoch nachts beinahe genauso oft den Pilgern aus den Höhlen an der Tür gegenüberstand wie Tagsüber den anderen Pilgern, gab sie sich große Mühe.

Glücklicherweise wurden die meisten Gläubigen von den rauen Kerlen, die Feldzieher um das Haus postiert hatte, abgewiegelt. Ohnfeder zu liebe hatte sie anfänglich versucht, das Haus vollständig gegen die Fremden abzuriegeln, die seit Wochen vor dem Haus lagerten. Sie waren ärgerlich, aufdringlich, und nahmen keine Rücksicht, weder auf die Bewohnerin, die sie angeblich verehrten, noch auf die Pilger, die weiterhin den Pfad zum Reshan suchten, für die dieser Hof immer eine Anlaufstelle und ein Lagerplatz gewesen war auf dem letzten Abschnitt auf ihrer Reise in die Höhlen.

Leider wurden es immer weniger, die die alte Pilgerreise in die Präsenz ihres Gottes antraten, und dafür immer mehr, die den kürzeren Weg zu seinen Kindern nahmen. Nach nur zwei Tagen, nachdem sich die Kunde von der Geburt anscheinend in Windeseile bis zur letzten Siedlung des Aleneshivolks herumgesprochen zu haben schien, war der Hof dermaßen überfüllt, dass einige der Frauen, die Treureigen bei der Pflege unterstützten, nicht mehr zum Haus vordringen konnten. Den ersten Tag mochten sich besonders die Ammen noch von der Aufmerksamkeit geschmeichelt gefühlt haben, schien doch etwas von der Heiligkeit der Kinder auf sie abgefärbt zu haben. Als die Pilger jedoch begannen, sie zu berühren und sogar fetzen aus ihrer Kleidung zu reißen, waren sie verängstigt geflohen. Für die mit Knüppel bewaffneten Wächter waren es einfach zu viele, um den Weg freihalten zu können.

Und so hatte Treureigen mit Ohnfeder gesprochen. Die Mutter der Gotteskinder und damit das heiligste Wesen, dass es nach dem Gott selbst in der Gedankenwelt der Aleneshi geben konnte, hatte nur die Augen geschlossen und im Stillen versucht, einen Ausweg zu ersinnen. Sie fand keinen.

„Mir fällt nichts ein, Treureigen. Ich will die Kinder nicht den verrückten dort draußen aussetzen.“

„Ohnfeder. Sie sind doch nicht verrückt. Das solltest du wirklich nicht sagen.“ Treureigen schämte sich ein wenig ihres Lächelns, das sie nicht unterdrücken konnte.

„Kann ich nicht? Diese stumpfen Trottel beten meine Kinder an, tun aber nichts, um ihnen zu helfen.“ Ohnfeder hatte sich kurz im Bett aufgestützt, ließ sich aber wieder zurück fallen.

Treureigen setzte sich neben ihre Freundin. „Wenn nichts passiert, werden sie immer weiter warten.“

Ohnfeder atmete resigniert aus. „Du hast wohl Recht.“ Sie schwiegen gemeinsam, während Ohnfeder Ideen im Kopf herumwälzte.

„Kannst du noch ein paar kräftige Rabauken hierher holen?“

„Wenn ich durch die Pilger komme.“

„Nimm dir einen von Feldziehers Jungs. Und achte d‘rauf, dass die Rabauken nicht besonders gläubig sind.“

„Ich hab da schon einige in der Nase.“

„Ich sehe, dass die Pilzschabers auf dich Abfärben.

„Weiß gar nicht, was du meinst.“ Sie lachten, Treureigen wurde aber schnell wieder ernst. „Und was soll ich ihnen versprechen, damit sie auch kommen?“

„Sag ihnen, dass sie die Priester und Pilger ärgern können.“

„Mhm, vielleicht reicht das ja. Aber ich glaube, ich verspreche ihnen auch ein anständiges Mal. Was sollen sie denn machen?“

„Also, ich hatte mir überlegt, dass wir die Kinder einmal am Tag zeigen. Die Rabauken schützen uns dabei und du, zwei Ammen und ich halten die Babys.“ Sie sah Treureigen an, die keine Reaktion zeigte. „Ich weiß, es ist kein großartiger Plan. Aber ich glaube, wir müssen langsam anfangen. Irgendwann werden wir vielleicht sogar durch die Menge gehen. Noch traue ich mich aber nicht vom Haus weg. Kannst du das verstehen?“

„Nur zu gut.“

„Und was meinst du?“

„Zu deinem nicht großartigen Plan? Ich denke, du hast Recht: es ist ein Anfang.“

 

Es dauerte zwei Tage, bis Treureigen eine Horde Jugendlicher zusammengesammelt hatte. Die pubertierenden jungen Männer wurden jedes Jahr auf eine Wanderschaft um die Gemeinschaften geschickt, damit ihr störender Einfluss auf die Gemeinden gerecht verteilt wurde. Diese Zeit wurde ihnen zugestanden, um sich auszutoben, bevor man von ihnen erwartete, ernsthafte, gläubige Aleneshi zu werden. Jeder wusste, dass man sich besser von ihnen fernhielt, wenn man nicht verspottet, gestoßen oder angespuckt werden wollte. Für die Menschen mochten dies kaum ernstzunehmende Vergehen sein, aber für die von Natur aus friedfertigen Aleneshi waren dies Verbrechen, die mit Stockschlägen bestraft werden konnten. Nur die Jugendlichen wurden davon ausgenommen.

Als sie eintrafen, bildete sich hastig eine Gasse zwischen den Pilgern. Gleichzeitig öffnete sich die Tür von Ohnfeders Hütte und Treureigen sowie drei andere Frauen brachten Krüge, Schüsseln und Teller hinaus.

„Los Jungs, lasst uns essen.“ Die zehn Rabauken beschleunigten ihre Schritte, bis sie vor der Hütte zu stehen kamen. Ohne weiteres Aufheben machten sie sich über die Speisen her. Als Schalen und Krüge geleert waren, stand der offensichtliche Anführer auf und wandte sich in einem überheblichen Ton an Treureigen, die die ganze Zeit über im Türrahmen gewartet hatte.

„Das war ganz nett, Gnädigste. Das reicht für heute. Sollen wir uns dann mal aufstellen? Wir haben nicht den ganzen Tag.“

Treureigen quittierte die Worte mit einem Augenrollen.

„Hockt euch bitte, in einem Halbkreis. Und schubst jeden, der näher kommt.“

Die Jungs kicherten gehässig, ließen sich aber Zeit, der Bitte Folge zu leisten. Sie schlenderten auf ihre Plätze und sackten einer nach dem anderen in die Hocke.

Treureigen ließ den Kopf hängen und hob ihn erst wieder, als der Anführer grummelte: „Geht’s jetzt endlich los?“

Sie straffte sich und blickte in die Hütte hinein, bis sie Ohnfeder nicken sah. Dann erhob sie ihre Stimme: „Die Frau Ohnfeder von den Grünhainen kommt jetzt heraus. Sie wird euch die Babys zeigen.“ Die Pilger, die nach und nach in Erwartung verstummt waren, als Treureigen sich aufgerichtet hatte, brachen zuerst in Gemurmel, dann in Geschrei aus, während sich die Nachricht weiter nach hinten verbreitete. Immer mehr erhoben sich und drangen nach vorne. Treureigen wich zurück zum Türrahmen, Die rauen Jungs blieben jedoch ruhig und der Anführer begann sogar zu lachen. Die Stimme hatte eine ungewöhnliche Wirkung auf die Pilger, die dem Haus am nächsten waren. Treureigen konnte sehen, wie ihre Gesichter sich vor Erschrecken verzogen. Sie hielten in ihrer Bewegung inne, konnten jedoch nicht verhindern, dass sie noch ein Stück weiter geschoben wurden. Die Verzögerung verstärkte die Unruhe in den Reihen der Andrängenden. Die Stimmen wurden lauter, so laut, dass den Frauen im Haus angst und bange wurde. Die Jugendlichen standen jetzt auf und machten sich bereit, zu schubsen und zu spucken. Ihren angespannten Rücken konnte man ansehen, dass sie die Situation inzwischen nicht mehr ganz so lustig fanden.

Plötzlich spürte Treureigen eine Hand an ihrer Schulter. Es war eine große Hand, die jedoch zitterte. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Ohnfeder hinter ihr stand. Sie schloss die Augen, denn sie fürchtete, dass sie versagt hatte. Sie hatte sich die Worte, die sie sagen wollte, die ganze Nacht durch den Kopf gehen lassen. Sie waren jedoch so ganz anders aus ihrem Mund gekommen, als sie in ihrem Verstand geklungen hatten. Jetzt waren die Pilger in Aufruhr, weil sie nicht die richtigen Worte hatte finden können. Ihretwegen musste Ohnfeder um ihr Leben fürchten.

„Mach dir keine Vorwürfe.“ Ohnfeder umarmte ihre Freundin von hinten. Sie kannte sie zu gut, um ihre Haltung nicht deuten zu können. „Ich habe doch gesagt, dass sie verrückt sind.“ Damit schob sie sich durch die Tür. Sie blieb kurz hinter den Rabauken stehen, die inzwischen unruhig hin und her blickten. So hatten sie sich den Spaß nicht vorgestellt. Dann verharrten sie. Vielleicht lag es daran, dass die Pilger plötzlich an ihnen vorbei sahen. Vielleicht spürten sie aber auch Ohnfeders Anwesenheit hinter sich, aber die Jungs gewannen neue Kraft und schubsten den einen oder anderen.

Sie blickten sich um und als sie Ohnfeders Gesichtsausdruck sahen, wichen sie zur Seite. Ihre Züge schienen noch freundlich zu sein, aber aus ihren Augen blitzte etwas, dass dem jede Freundlichkeit fehlte. Sie hatte frisch entbunden, was ihr eine fast übernatürliche Aura und ein böswilliges Selbstbewusstsein gab, und sie war wütend. So wütend. Auf die dummen, dummen Pilger auf ihrem Hof. Auf die Jungs, die sie schützten, weil sie keine Ahnung von dem hatten, was um sie herum vor sich ging und trotzdem glaubten, darüber lachen zu dürfen. Auf den Gott, der sie ausnutzte. Und vor allem auf sich selbst, weil sie sich die ganze Zeit hinter Treureigen und den anderen versteckt hatte.

„Hört mir zu“, krächzte sie hervor. Sie schluckte trocken und wiederholte lauter: „Hört mir zu!“ Es wurde stiller, aber weiter hinten schien man noch nicht mitbekommen zu haben, was sich vor der Hütte abspielte.

„Ich bin enttäuscht. Ich bin wirklich enttäuscht von euch. Und sehr wütend.“ Sie machte eine Pause, während sie die betroffenen Gesichter betrachtete. „Was fällt euch ein? Ich bin nur eine einfache Bäuerin. Was fällt euch ein? Ihr kommt auf mein Land! Mein Land! Ihr belästigt mich Tag und Nacht! Ihr stört meine Kinder, weckt sie auf! Jetzt bedroht ihr uns auch noch?“ Eine einsame Träne quoll aus ihrem linken Auge. „Was fällt euch ein? Schämt euch! Ja, schämt euch! Ihr seid keine Rabauken mehr!“

Inzwischen war es ganz still geworden und nur die wenigen Onren, die noch übrig waren, schrien in ihrem Stall. Einige der Pilger nickten betroffen.

„Ich wollte euch meine Kinder zeigen. Meine Kinder! Versteht ihr das? Ich habe mein Wort gegeben. Deswegen werden meine Freundinnen mir helfen, sie herauszubringen.“ Die Gesichter hellten sich auf. „Dafür erwarte ich von euch, dass ihr euch benehmt. Und ich erwarte, dass ihr dann von meinem Hof verschwindet.“

Ohnfeder hatte wenig Hoffnung, dass wirklich alle gehen würden, aber jeder, der weg war, war in ihren Augen eine Verbesserung. Sie fürchtete nur, dass immer mehr kommen würden.

Sie musste einen Ausweg finden, der die Pilger von ihren Kindern auf Dauer fernhalten würde.


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