Feen 2: Sheka, Breka, Mei-neke

Mittwoch, 27. August 2014, 10:35
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Imanahm war die Hochburg der Verlorenen und Verzweifelten. Hierher kamen alle, die keine Hoffnung mehr besaßen, die hatten fliehen müssen, die nicht mehr wussten, wohin sie sonst gehen sollten. Diese Stadt zog sie alle an, denn hierher kamen auch die Händler und Pilger. Viele Besucher bedeutete viele Bedürfnisse, die befriedigt werden mussten. Köche, Träger und Gastwirte standen auf der lichten Seite derjenigen, die diese Aufgaben übernahmen, Prostituierte, Mörder, Spione und Diebe auf der dunklen. Einige überlebten, verdienten ihren Unterhalt, bei anderen konnte man es kaum als Überleben bezeichnen, wenn sie auch nicht tot sein mochten. Viele mehr starben.

An Hunger.

An Kälte.

An Hitze.

Aber die meisten starben an der Stadt.

 

Sheka, die sich jetzt Mei-neke nannte, konnte sich bessere Orte für sich und ihre beiden kleinen Kinder vorstellen. Auch für die Geburt ihres Ungeborenen mochte es schönere Städte geben, aber auch schlechtere. Enk hatte ihr berichtet, dass es in dieser Stadt sehr gute Hebammen gab. Sie hoffte nur, dass sie, wenn es so weit war, noch das Geld haben würde, um sich diese Frauen leisten zu können. Bisher hatte sie Glück gehabt. Niemand hatte versucht sie zu berauben, wenn man von einem Taschendieb in einer kleinen Herberge absah. Der junge Mann hatte ihren Wanderstab zu spüren bekommen, nicht ihre bevorzugte Waffe, aber das Schwert, mit dem die meisten hochgestellten Frauen ihres Clans umzugehen lernten, wäre zu auffällig gewesen. Sie hatte ihr Schwert in ihrem Gepäck untergebracht. Enki oder Shek saßen meist darauf. Die beiden wussten nichts von dieser Klinge, denn selbst in ihrem Zuhause hatte sie sie immer in der Kammer unter dem Bett verborgen, eingewickelt in Tücher. Sie hatte es nur gelegentlich herausgeholt, um es zu ölen. Sie wusste, dass dieses Schwert sie verraten konnte, so wie Enk es gewusst hatte, als er sie ihr geschenkt hatte. Sheka hatte nie herausgefunden, wo die Klinge her kam. Trotzdem konnte sie sehen, dass sie gut gearbeitet war, konnte spüren, wie gut sie in der Hand lag. Die Waffe war schmucklos, nicht einmal eine Gravur. Ihr Ehemann hatte ihr gestanden, dass er eigentlich noch seine Liebe hatte einritzen lassen wollen, das Risiko, entdeckt zu werden, jedoch zu groß gewesen wäre. So hatte sie ihm selbst einen Namen gegeben. Enk hatte halb im Scherz „Bettleger“ vorgeschlagen, für die größte Tat, die es bisher begangen hatte. Sie hatte es stattdessen „Mannritzer“ genannt, ihm zum Trotz und nachdem, was sie hoffte, dass sie damit tun würde. Ein guter Name, fand sie, ein stolzer Name, den schon andere Klingen getragen hatten. Manchmal, wenn sie in den letzten Monaten neben dem Ges gegangen war, hatte sie das lange Paket unter dem Gepäck ertastet und sich nicht nur an ihren Mann, sondern auch an ihr Leben als Fürstin der Kariaks erinnert. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, aber in ihr entzündeten diese Erinnerungen eine Sehnsucht, die ihr das Herz zu verbrennen schienen.

So wertvoll ihr das Schwert war, es war doch nutzlos, solange sie es nicht an der Seite trug. Deshalb war sie im ersten Dorf, in dem man sie nicht kannte, zum Schmied gegangen und hatte sich drei Dolche gekauft. Der Mann war nur leidlich talentiert und die Waffen waren mehr überlange Brotmesser, aber sie würden ihre Aufgabe erfüllen, wenn sie sie benötigte.

Einen Dolch trug sie offen an ihrem Gürtel, einen unter ihrem Rock, einen dritten, kurzen, ohne Parierstange, band sie sich an den Unterarm. Dolche waren keine Schwerter und ihr Training an ihnen nur gering, sie zählte jedoch auf das Überraschungsmoment, den die beiden versteckten Dolche ihr gewährten.

Den Schmied hatte sie auf dem Weg verlassen, auf dem sie auch gekommen war, um später durch Gehölz und Felder ihren eigentlichen Weg fortzusetzen. Enk hätte ihn vermutlich umgebracht, verscharrt und die Schmiede abgebrannt. Vielleicht hätte er sogar die Nachbarn getötet, die sie hatten ankommen sehen. Mei-neke hatte noch nicht getötet und hoffte, dass es auch nicht so weit kommen würde.

Nun war sie jedoch in Imanahm. Diese Stadt war größer, als jeder Ort, den sie jemals gesehen hatte. Sie hatte von den Drachenfestungen gehört, die sich angeblich majestätisch an die Berghänge schmiegten. Es hieß, dass dort tausende von Menschen Platz finden könnten, genau wie in Imanahm. Mei-neke stellte sich jedoch eine solche Festung sauberer vor. Und auch schöner. Als ein Bauwerk, an dem nicht ständig neue Gebäude von Menschen angeheftet wurden, die sich keine Gedanken um die Stile ihrer Vorfahren gemacht hatten.

Auf der Wanderung waren sie an Fasanal vorbeigekommen. Sie hatten die Stadt nur umrundet und beobachtet, wie Menschen durch die großen Tore ein- und ausgingen. Sie hatte den Kindern von einem fahrenden Händler ein paar Honigstangen gekauft. Die beiden waren so glücklich gewesen. Aber die Stadt war ihr zu voll gewesen. Damals war sie noch Breka gewesen. Breka würde wohl nie bereit sein, eine solche Stadt zu betreten. Außerdem wusste sie, dass einige Händler aus Fasanal jenes Dorf regelmäßig besuchten, in dem sie die letzten Jahre gelebt hatte und dass sie doch nicht Heimat nennen wollte. Von einigen ihrer Bekannten dort hatte sie sogar gehört, dass sie schon einmal den weiten Weg gemacht hatten, um einen der größeren Tempel aufzusuchen. Deswegen hatte sie mit Enk besprochen, dass sie zur größten ihm bekannten Stadt wandern würden, weit weg von allen Menschen, die sie kannten.

Und nun waren sie hier. Ohne Arbeit, ohne feste Unterkunft, schwanger und mit zwei Kindern, die mit vier und fünf Jahren zu gebildet waren für Landeier. Sie selbst, die zu stolz für eine arme Bäuerin war. Mit zu viel Geld und einem Ges, als wären sie Diebe oder vertriebene Patrizier. Sie versuchte so gut es ging, ihren Wohlstand zu verheimlichen. Sie war jedoch fremd in dieser Stadt, besaß keinen Leumund, war eine einsame Schwangere mit zwei Kindern, was für viele bedeutete, dass sie nur eine Hure sein konnte.

Momentan übernachteten sie in einem kleinen Zimmer über dem Stall, in dem ihr Ges untergebracht war. Sie versuchte gerade das Tier zu verkaufen, es war jedoch zu abgemagert, um in dieser Stadt einen Käufer finden zu können. Außerdem stand der Winter bevor und Ges waren keine nützlichen Tiere in der Kälte.

Sie brauchte eine Arbeit und einen Ort, an dem sie ihre Kinder lassen konnte. Sie zog zu viel Aufmerksamkeit auf sich, wenn sie Geld ausgab, für das man sie nicht arbeiten sah. In dieser Stadt jedoch schien es für fremde Frauen kaum ehrliche Arbeit zu geben, vor allem nicht für Frauen, die kein Handwerk erlernt hatten. Und was die Kinder anging, schien es in dieser Stadt nur drei Möglichkeiten zu geben, die Kinder den Tag über zu beschäftigen. Die erste stand nur den gehobenen Schichten offen, den Patriziern, die ihre Kinder Kinderfrauen und Lehrern übergaben. Die zweite war den Kindern der Spezialisten vorbehalten, die sich wenigstens Zeitweise eine Schule leisten konnten und anschließend ihren Kindern ihr eigenes Können beizubringen versuchten. Die letzte mussten alle anderen wahrnehmen, und sie bestand schlicht daraus, die Kinder sich selbst zu überlassen. Enki und Shek waren klug, aber die Straße war kein Ort für die beiden kleinen, die es gewohnt waren, auf Feldern und in Wäldern zu spielen. Der Weg hatte die kleinen hart gemacht, sie Entbehrungen gelehrt und ihnen gezeigt, wie sie sich gegen einige Ungelegenheiten wehren konnten. Die Stadt war jedoch etwas anderes. Die Gefahr hier war verborgener und Kinder, die nicht wussten, wie sie danach Ausschau halten sollten, waren schnell für immer verloren. Mei-neke musste daher eine Arbeit finden, bei der sie ihre Kinder mitnehmen konnte. Hinzu kam, dass sie dringend eine richtige Wohnung benötigten. Der Stall war besser als die Straße. Die Ges und das gelegentliche Bataga hinterließen ihre Wärme im Stall. Und das, was sie darüber hinaus hinterließen, stank zwar, wärmte jedoch noch einmal mehr. Radin, der Besitzer des Stalls hatte sie aufgenommen, als Mei-neke ihm ihre Geschichte erzählt hatte: Wie sie mit ihrer ganzen Familie, ihrem Mann und den beiden Kindern, aus dem Norden gekommen war. Wie sie überfallen worden waren. Wie ihr Mann die Verbrecher aufgehalten hatte. Wie sie seitdem auf sich allein gestellt gewesen waren. Enk war diese Geschichte mit ihr mehrmals durchgegangen, so gut es in der kurzen Zeit möglich gewesen war. Auf dem Weg hatte sie sich immer wieder vorgestellt, wie sie diese Mär der einen oder anderen Person erzählte. Sie hatte geübt, aber bei den ersten Malen war sie kläglich mit ihren Lügen gescheitert. Glücklicherweise waren die Zuhörer nur Bauern und kleine Händler gewesen, denen ihre Erzählung gleichgültig gewesen war. Einige hatten ihr trotzdem Unterschlupf gewährt, andere hatten die Nase gerümpft und sie weggeschickt. Bei Radin war sie jedoch überzeugend gewesen. Vielleicht hatte geholfen, dass sie ihr Ges selbst versorgt hatte und bereit war, im Stall zuzupacken.

Dennoch stand sie jetzt in ihrem besten Kleid vor einem der großen Patrizierhäuser. Sie blickte an sich herunter bevor sie anklopfte. Sie mochte ihr Kleid. Der Stoff war aus feiner Wolle gewoben mit leuchtenden Farbfäden durchzogen, die ein schlichtes Muster ergaben und, wenn man genau hinsah, stilisierte Tiere formten. Dort wo sie herkam, wäre es der Neid vieler Frauen gewesen. Hier jedoch brauchte sie nur einmal auf die Straße zu blicken um zu sehen, dass sie jeder hier für ein Landei halten musste. Dies machte ihr schmerzhaft bewusst, wie wenig sie über die Sitten und Bräuche in dieser Stadt wusste. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie die Stelle einer Dienerin zur Genüge ausfüllen können würde, so fremd waren ihr die Umgangsformen, so anders der Codex, nach dem die Patrizier hier lebten, gegenüber dem, dem der Adel in ihrer Heimat folgte.

Sie ballte ihre Fäuste, bis die Gelenke weiß hervortraten. Mit einem Schlucken, dessen Klang an ein leises Grunzen erinnerte, versuchte sie, ihre Angst herunterzuschlucken. Ein letztes Mal strich sie ihr Kleid glatt und klopfte. Sie wiederholte den Vorgang noch zwei Mal, bis sich endlich die Tür öffnete.

Ein junges Ding, ihr erstes Blut war vermutlich vor nicht allzu langer Zeit geflossen, öffnete die Tür und blickte zu ihr auf und anschließend auf das Kleid.

„Womit kann ich euch dienen, Herrin.“ Sie verneigte sich verwirrt.

„Mögen die Götter deine Arbeit segnen. Aber ich bin keine Herrin. Ich bin auf der Suche nach Arbeit.“

Ein erneuter Blick auf ihr Kleid.

„Ich weiß nicht. Ich müsste die Hausdame fragen.“ Das Mädchen rührte sich jedoch nicht von der Stelle.

„Könntest du sie bitte fragen?“ Sie nickte und ging zurück in die Dunkelheit des Hauses, ohne die Tür hinter sich zu schließen.

 

Ihre Füße taten weh, ihre Schultern waren verspannt, sie war erschöpft. Erschöpfter als nach ihren Tagen der Wanderungen. Sie hatte acht Häuser besucht, keine große Zahl. Aber jeder Besuch hatte bedeutet, dass sie misstrauisch hereingelassen wurde, befragt, abschätzig betrachtet, geprüft, getestet und schließlich wieder, nicht zu unfreundlich, herausgeschoben wurde. Und immer der Blick auf ihr Kleid, das fremd, aber zu fein war, um einer Dienerin zu gehören, oder viel mehr, zu fein für eine ehrliche Dienerin war. Mit ihrer Geschichte gab sie wenigstens eine Erklärung, warum ihr Gebaren nicht dem einer Dienerin entsprach. Diese war jedoch nicht ausreichend, um die Hausdamen, Hausdiener oder wer auch immer sich bemüßigt fühlte, mit ihr zu sprechen, zu überzeugen. Angehört hatten sie sich die Geschichte alle. Sie hatten nachgefragt, nach Löchern und Ungereimtheiten gesucht und, soweit Mei-neke es sagen konnte, keine gefunden. Irgendwann hatte auch jeder nach ihren Befähigungen gefragt, als wäre es eine unwichtige Nebensache. Was konnte sie darauf schon sagen? Sie hatte einen eigenen Haushalt geführt, jedoch nichts, was mit den Häusern in dieser Stadt zu vergleichen war. Sie konnte kochen, aber nichts, was man hier gegessen hätte. Sie hatte Kinder betreut, aber es waren ihre eigenen. Wie sie es drehte und wendete, sie konnte ihnen keinen überzeugenden Grund geben, sie einzustellen. Vielmehr hatte sie das Gefühl, dass die Leute, die sie aushorchten, nicht einmal daran interessiert waren, jemanden einzustellen, sondern nur ihre Geschichte hören wollten. Und am Ende war immer dieser Blick auf das Kleid, einmal, wenn sie Luft holten, um sie auf die Straße zu setzen, ein letztes Mal, sobald sie vor der Tür stand.

Sie war erschöpft und niedergeschlagen. Ohne Hoffnung, dass ihr Leben sich jemals wieder zum Besseren wenden würde. Aber Hoffnung war etwas für jene, die kein Ziel, keine Verpflichtungen hatten. Bevor sie den Stall betrat atmete sie noch einmal tief durch, richtete sich auf und verhärtete ihre Miene. Morgen würde sie ein schlechteres Kleid anziehen und an die nächsten Türen klopfen.


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