Feen 2: Der Kampf auf dem Markt
Er hatte Hylei gefunden. Sie hatten sich zugerufen und er hatte versucht, ihr die Bedrohung zu erklären. Spätestens, als sie die Kunden und Händler auf sich zukommen sah, begriff sie, dass sie fliehen mussten, auch wenn sie noch nicht wusste, warum.
Pethen hingegen wusste sehr genau, was geschah. Seine Sicht umfasste den gesamten Marktplatz und er sah die zwanzig Bewaffneten, die die Menge vor sich hertrieben. Vor ihnen hätten er und Hylei fliehen können. Aber diejenigen, die sich von der anderen Seite näherten … er wusste, wer sie waren, er kannte ihren Anführer. In diesem Augenblick wusste er, dass der Fremde mit seinem Faden recht gehabt hatte. Aber gleichgültig, ob er sich jetzt vorwarf, ihm nicht vertraut zu haben oder ob er sich schalt, dass sie bereits gestern hätten fliehen sollen, es war zu spät und jetzt würden sie nicht mehr entkommen können. Nicht ohne mehr Glück als sie bisher gehabt hatten oder einen Kampf.
Hylei und er versuchten auf einander zuzulaufen, aber inzwischen hatten die Menge sie erreicht und trieb sie auseinander. Gleichzeitig sah Pethen, wie der Priester ihm immer näher kam.
Sie konnten sich mit den anderen Menschen mitreißen lassen und versuchen mit ihnen zu einem der Ausgänge des Marktes zu gelangen, Sie hätten jedoch zu wenig Kontrolle über ihre Bewegung gehabt und er konnte beobachten, wie der Priester-Magier ihnen den Weg abzuschneiden begann.
Sie konnten vielleicht auch hoffen, dass sie in der Lage sein würden, schneller zu laufen als ihre Verfolger. Sie hatten ja inzwischen reichlich Übung darin. Wenn sie jedoch Pech hatten, und davon war auszugehen, dann würden sie die Tore nur noch geschlossen vorfinden. Und selbst wenn nicht, wären sie vor der Stadt ein leichtes Ziel gewesen. Er wünschte, sie wären so schnell, wie der Fremde.
Pethen konnte keinen Ausweg mehr sehen. Es würde zu einem Kampf kommen und sie würden sterben, oder Hylei würde mit ihrer ungehemmten Magie ein Massaker anrichten, nicht nur unter den Kriegern. Es gab keine andere Möglichkeit. Außer vielleicht einer.
Pethen drehte sich um und ging mit erhobenen Händen auf den Priester zu. Warum sollten sie beide sterben? Wenn er sich stellte, gewann er Hylei vielleicht genügend Zeit zu entkommen. Außerdem hatte der Fremde gesagt, dass der Faden zwischen ihm und seinem Verfolger gespannt war. Ohne diesen Faden hätte man sie vermutlich gar nicht mehr aufspüren können. Hylei wäre ohne auf der Flucht besser dran.
Eine stechende Scham durchzuckte den jungen Magier. Erneut war er für die Schwierigkeiten verantwortlich, in die sie geraten waren. Ohne ihn wäre Hylei nicht nur nicht von den Pilgern gefangen genommen worden, sie wäre auch den Priestern entkommen. Auch wenn diese Gedanken erst nach seinem Entschluss in ihm aufgestiegen waren, erleichterten sie sein Vorhaben und er ging fast befreit auf seine Verfolger zu. Er fühlte sich, als leiste er eine Wiedergutmachung gegenüber Hylei.
„Ich ergebe mich.“ Er brüllte es so laut er nur konnte. Die Wächter, die neben dem Priester gingen, richten ihre Armbrüste auf ihn.
„Bitte, ich ergebe mich.“ Der Priester näherte sich vorsichtig.
„Wo ist die Hexe?“ Pethen warf dem Mann einen fragenden Blick zu. „Deine Gefährtin?“
Pethen schluckte. „Ich ergebe mich, ohne Kampf.“ Er ließ sich auf die Knie fallen. „Lasst sie gehen. Sie ist ungefährlich. Sie war nur zufällig da.“ Selbst in seinen eigenen Ohren klangen diese Worte nicht überzeugend.
Owithir nahm die mit Silber beschichteten Metallfesseln aus dem Gürtelbeutel. Er war jetzt beinahe neben dem Dämonenbeschwörer, und einen Moment lang schien die Welt den Atem anzuhalten. Dann schrie Tafgen plötzlich hinter ihm: „Er hat ein Messer.“ Dies war der Moment, in dem alles schief zu laufen begann. Pethen machte den Fehler, mit der Hand zu zucken, weil ihm plötzlich bewusst wurde, dass sich das Messer durch seinen Kniefall unter seiner Jacke abzeichnete. Er hatte seinen Arm nicht einmal bis zu seinem Kopf heruntergenommen, als sich Tafgens Sehne löste. Der Bolzen schob sich langsam über den Lauf, verließ die Armbrust und glitt durch die Luft auf Pethen zu. Er war überrascht, dass er nicht starr vor Angst dort kniete, sondern dem Bolzen gelassen entgegenblickte. Es bedurfte nur eines Gedankens, und das Geschoss wurde von einer unsichtbaren Wand in die Erde gelenkt. Die Energie, die er ausgesandt hatte, folgte dem Weg des Angriffs zurück und schleuderte den Mann durch einen der Marktstände.
„Es ist nicht an dir, dich für mich zu opfern.“ Hyleis Stimme erklang hinter ihm. Als er sich ergeben hatte, hatte er seine volle Aufmerksamkeit dem Priester zugewandt, der jetzt entsetzt zuerst auf ihn, dann auf den Feenling blickte. Er konnte deutlich spüren, wie jener dachte, dass die Aufgabe nur vorgespielt gewesen war.
„Nein! Das habe ich nicht gewollt!“, doch seine Worte wurden von dem Rauschen zweier Wasserstrahlen übertönt, die die Bewaffneten neben dem Priester einige Schritte weit die Gänge hinunterspülten. Pethen hatte nicht gewusst, dass Hylei so gut geworden war, dass sie zwei Strahlen gleichzeitig erzeugen konnte, verschwendete jedoch keinen Gedanken mehr darauf, als der letzte verbliebene Wächter seine Waffe auf ihn richtete. Er hob die Hand und kümmerte sich nicht weiter um den Mann. Noch während der Bolzen an der unsichtbaren Wand abprallte und in einem Korb mit Äpfeln verschwand, blickte er sich nach Hylei um. Sie hatte sich an einer Kreuzung nicht weit von ihm entfernt positioniert und deutete immer noch mit beiden Händen auf die Stellen, wo eben noch ihre Feinde gestanden hatten. Pethen wollte sich erheben, aber in diesem Augenblick wurde der Schild zwischen ihm und seinen beiden Gegnern hinweggesprengt. Er wurde nach hinten geworfen. Aber selbst auf dem Rücken konnte er dem Priester widerstehen. Auch er hatte jetzt eine Hand gehoben und versuchte ihn wie beim letzten Mal mit einer Energiewand zu erdrücken. Pethen pressete mit seinen beiden Händen gegen die Wand und zwischen seinen Händen begann kleine, blaue Blitze zu zucken. Wenn es ihm gelang, sich zu konzentrieren, könnte er leicht Gegenwehr leisten, doch zu viel stürzte in diesem Augenblick auf ihn ein: Der Druck auf seine Arme, der Schmerz in seinem Hinterkopf, die Sicht, die ihm zeigte, wie der Armbrustschütze seine Waffe spannte, Hylei die Magie zu sich sog und der Anführer der Soldaten, die die Menge vor sich hergetrieben hatte, seinen Arm hob. Wie die Männer die Armbrüste anlegten.
Die Angst quoll aus ihm heraus und ließ seine beiden Gegner zurücktaumeln. Auch Hylei wurde von dem Gefühl getroffen, fiel zuerst auf die Knie und schließlich mit dem Gesicht auf die Erde. Sie hielt sich den Kopf, in dem verzweifelten Versuch, der Angst Herr zu werden.
Ähnlich ging es dem verbliebenen Krieger. Die Gruppe um den zweiten Priester jedoch bekam nur noch die Ausläufer der Angst zu spüren. Sie wurden nicht wie die anderen von ihr bezwungen, sondern reagierten jeder auf die ihm gegebene Art. Heigadan gab den Befehl zu schießen und die meisten folgten ihm.
Hylei, die ihr Ziel gewesen wäre, konnte in ihrer Panik noch die Bolzen über sich schießen spüren, als sie zu Boden ging. Sie hatte Glück. Nicht so fünf der rennenden Marktbesucher, die von Pethens Angst beflügelt blind durch die Gänge stürmten.
Nur Owithir schien nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Sein Angriff war für den Augenblick abgebrochen, er stand aber immer noch an der Stelle, von der aus er Hyleis Angriff beobachtet hatte. Fremde Angst war ihm nicht neu, zu oft hatte er sie in den Kellern des Tempels gespürt. Er hatte gelernt, ihr zu widerstehen. Die Heftigkeit hatte ihn trotzdem stocken lassen.
Auch Pethen hatte sich jetzt wieder im Griff, nachdem seine Angst hinausgeströmt war. Er konnte beobachten, wie die Armbrustschützen hastig und ungeschickt ihre Waffen nachluden. Die fünf anderen Krieger würden noch eine Weile außer Gefecht bleiben, einer von ihnen mochte sogar tödlich verwundet sein. In dem Priestermagier sah er jedoch bereits Magie fließen, zu seiner Überraschung nicht aus der Umgebung angezogen, sondern nur durch den Körper. Was immer er vorhaben mochte, Pethen kam ihm zuvor, indem er aufsprang und ihm eine Faust in den Bauch rammte.
Owithir krümmte sich zusammen. Wenn er mit allem gerechnet hätte, den körperlichen Angriff eines Magiers hatte er nicht erwartet. Nun war es an ihm auf die Knie zu gehen. Er sah dem Hexer nach, wie er zu der Frau lief, die seine Männer fortgespült hatte. Während er ihr auf half, schossen die Wächter aus dem Tempel erneut. Der Hexer machte sich nicht einmal die Mühe, in ihre Richtung zu blicken, dennoch erkannte Owithir, dass er gerade rechtzeitig eine Wand erschaffen hatte, die die Geschosse mühelos abfing. Allerdings beschränkte der Beschwörer seine Magie nur auf den kleinen Bereich vor sich und seine Buhle. Erneut fanden Geschosse lebende Ziele und beendeten das Leben unbeteiligter.
Der Diakon wollte seinem Amtskollegen zurufen, dass er seinen Männern Einhalt gebieten sollte, musste jedoch feststellen, dass jener seine Männer noch anfeuerte, ihre Salven zu beschleunigen. Er musste diesem Desaster ein Ende bereiten. Mit der Linken zog er sich an einem Stand hoch und streckte die Rechte aus, um die göttliche Energie gegen die Häretiker zu senden.
Der Hexer schrie die Frau an. Sie versteifte ihre Schultern und verwandelte sich in Owithirs göttlicher Sicht in eine Säule puren Lichts, so hell, dass sie ihn blendete. Dann schossen Flammenstrahlen von ihr fort und trafen zwei der Tempelwächter.
Mehr sah er jedoch nicht mehr von ihren ruchlosen Zaubern, denn sein eigener Angriff wurde geblockt, bevor er beginnen konnte. Zum zweiten Mal überrumpelte ihn der Hexer und warf ihn bis zu Marinam zurück, der immer noch gegen seine Angst kämpfte. So plötzlich wie der Angriff gekommen war, endete er jedoch auch wieder. Owithir entriss seinem Gefolgsmann die Armbrust und legte an.
Hylei zitterte immer noch am ganzen Körper. Sie hatte jedoch gelernt, Angst in Wut zu verwandeln und nutzte sie, um weitere Magie zu sammeln. Sieben ihrer Angreifer waren bereits tot oder von den Flammen schwer verwundet. Sie hatte noch nicht so viel Übung mit den Feuerzaubern, weswegen sie sie schneller erschöpften. Aber ihr ganzes Empfinden schrie nach den versengenden Bränden, die ihre Feinde so viel endgültiger besiegen würden, als die ihr vertrautere Wassermagie. Hätte ihr jemals jemand gesagt, dass Pethen und sie ein gutes Team im Kampf sein würden, sie hätte ihn vermutlich ignoriert und aus der Liste der vernünftigen Menschen gestrichen. Denn obwohl sie seinen Angstzauber hasste, wie sie nur wenig zuvor gehasst hatte, war die Kombination seiner Abwehr und ihrer Angriffe nahezu unschlagbar, solange sich niemand aus einer anderen Richtung näherte.
Sie hatte noch nicht genügend Magie gesammelt, um die nächsten drei Flammenpfeile zu verschießen, als sie aus dem Augenwinkel den Mann mit der Armbrust sah. Auch sie konnte sich an ihn erinnern. Sie vergaß nicht so leicht das Gesicht eines Mannes, der sie durch mehrere Hecken geschleudert hatte. Ihre Instinkte setzten ein und reflexartig schickte sie einen schwachen Flammenball auf den Priester zu.
Owithir würde die Feuerkugel noch in vielen Träumen auf sich zufliegen sehen. Der Schmerz in seiner Hand, als die Armbrust aus seinem Griff gesprengt wurde, verwandelte sich schnell in Agonie, als er ungläubig auf die schwarze, verkrümmte Kralle blickte, die eben noch die Waffe gehalten hatte. Unter schreien brach er zusammen.
Als ihr Anführer zu Boden ging, verließ die verbliebenen Angreifer der Mut und der zweite Diakon gab den Befehl zum Rückzug, eine Formulierung, die nur den gesprochenen Worten nach der Wahrheit entsprach, denn mit dem Befehl flohen die Wächter und ihr Befehlshaber zurück zum Tempel ohne irgendeine Ordnung einzuhalten. Sie ließen ihre Verwundeten und Toten zurück, in der Hoffnung, dass die Dämonenbeschwörer verschwinden würden oder andere Wächter ihrer in noch größerer Überzahl Herr werden könnten.
Pethen blickte noch auf ihre Rücken, als Hylei bereits auf den Priester zuschritt, um ihr Werk zu vollenden. Wären seine Gedanken nicht so sehr auf die Fliehenden gerichtet gewesen, er hätte vermutlich versucht, sie aufzuhalten. So bemerkte er ihr Vorhaben jedoch zu spät und sie stand bereits zwei Schritte von ihrem Verfolger entfernt. Er sah, wie sie erneut die Magie in sich sammelte.
Dann ließ sie sie wieder aus sich herausfließen, ohne ihr ein Ziel zu geben.
„Bitte, tun sie Wohlehrwürden nichts an.“
Pethen hörte die Worte noch bevor er ihren Urheber erkennen konnte. Nur langsam dehnte sich seine Wahrnehmung wieder in alle Richtungen aus, nachdem er sie so sehr auf die Feinde vor sich konzentriert hatte.
Ein junges Mädchen hockte hinter dem Priester und hielt seinen Kopf in ihren Händen. Mit großen, flehenden Augen blickte sie Hylei an.
„Geh weg. Ich will dir nicht wehtun.“
„Herrin. Bitte, warum müsst ihr denn so furchtbar böse Dinge tun?“
Hylei blickte sie verständnislos an. Was dachte dieser Balg? Dass sie diesen Priester nur aus Spaß verwundet hatte?
„Lass uns fliehen, Hylei. Wir müssen weg.“
„Wenn wir ihn nicht jetzt töten, Modonhirn, dann kommt er wieder hinter uns her.“
„Du hast Recht, aber er ist wie ich. Ich bin ganz sicher. Seine Magie macht genau dieselben Sachen wie meine.“
„Und was hat das damit zu tun?“
„Wahrscheinlich weiß er es nicht besser?“
„Seit wann ist das ein Grund, einen Feind nicht zu töten?“
Inzwischen hatte sich das Mädchen vor den Priester gestellt, der sie mit fiebrigen Augen betrachtete. Sie breitete theatralisch die Arme aus, als glaubte sie tatsächlich, auf diese Weise einer Magierin den Weg versperren zu können. Hyleis Augen schienen Feuer zu sprühen und Pethen konnte die Furcht in dem Mädchen sehen. Gleichzeitig zog seine Gefährtin bereits wieder Magie zu sich. Es wäre ihr ein Leichtes, beide auf einen Schlag umzubringen, oder auch das Lästige Hindernis aus dem Weg zu wischen und nur den Priester zu töten. Doch sie zögerte immer noch.
Pethen erschien neben ihr. Er wagt nicht, sie anzufassen, dennoch bemerkte sie ihn und konnte sich nicht entscheiden, ob es sie wütender machte oder beruhigte, ihn neben sich zu wissen. Dabei wandte sie nicht den Blick von dem Mädchen, das ihr mit einer Kraft trotzte, die über das Maß des Menschenmöglichen hinauszugehen schien.
„Lass uns fliehen, Hylei. Vielleicht können wir noch das Tor erreichen, bevor sie es schließen.“
Sie drehte sich um. Eine Träne der Wut rann ihre Wange herunter.
Pethen wollte ihr folgen, nahm sich aber die Zeit, noch ein paar letzte Worte an das Mädchen und den Priester zu richten.
„Wir haben das nicht gewollt. Wir haben uns doch nur verteidigt. Bitte, verfolgt uns nicht mehr. Wir haben euch doch nichts getan.“
Dann rannte er los, denn die Krieger, die durchnässt einige Stände weiter lagen, erhoben sich langsam. Er wünschte sich, er hätte mehr Zeit gehabt. Vielleicht hätte er den Priester dann überzeugen können, dass er so war wie er, ein Magier. Unter den gegebenen Umständen, wäre es jedoch Wahnsinn gewesen, es auch nur zu versuchen. Er hatte sie all die Wochen verfolgt und war jetzt zum zweiten Mal von ihnen besiegt worden. Die paar Worte, die Pethen noch hätte sagen können, bevor er in einen erneuten Kampf verwickelt worden wäre, würden ihn nicht umstimmen können.
Er holte Hylei erst am Ausgang des Marktes ein, wo sie zwei Männern gegenüberstand. Den einen von ihnen, einen hageren, zottigen Mann, kannte er nicht. Der andere war jener Fremde, der ihn gefunden hatte. Der Zottige hob beschwichtigend die Hände, als er Pethen auf sich zukommen sah, als hätte er geahnt, dass der junge Magier bereits die nächsten Zauber durch seinen Körper gleiten ließ. Wie sie es geschafft hatten, Hylei von einem Angriff abzuhalten, war ihm unbegreiflich. Denn nichts konnte jetzt so wichtig sein, dass sie noch länger hier verweilen durften.
„Schnell, wir haben nicht viel Zeit.“ Der Hagere winkte ihm. Noch als er die Entfernung überbrückte, drehten sich die Männer um und gingen mit den ausholenden Schritten geübter Wanderer zu einer Gasse, in der sie verschwanden. Hylei folgte ihnen bereitwillig. Sobald sie den Fremden in ihrem Weg gesehen hatte, hatte sie noch im Laufen einen weiteren Wasserstrahl geschleudert, der jedoch einfach verschwunden war, kurz bevor er sein Ziel erreicht hatte. Der Schock über das gesehene ließ ihre Füße am Boden festfrieren. Sie hätte nicht überraschter sein können, wenn der Strahl zu ihr zurückgekehrt wäre. So hatte sie dort gestanden, bis Pethen sie eingeholt hatte. Sobald sie hinter den Männern hergingen fiel er in Schritt mit ihr, wie er es auf der Flucht so oft getan hatte.
Sie brauchten den Männern nicht weit hinterher zu laufen. Bereits wenige Schritte in die Gasse hinein blieben sie stehen und wandten sich an die beiden Flüchtlinge.
„Wir helfen euch, aus der Stadt.“ Der Hagere blickte den beiden abwechselnd in die Augen. „Ihr kennt mich nicht, und meinem Freund vertraut ihr nicht, wie es aussieht.“ Er lächelte, als müsste er sich über einen kleinen, privaten Scherz amüsieren. „Trotzdem hoffen wir, dass ihr uns erlaubt, euch zu helfen.“
Pethen merkte erst jetzt, wie sehr ihn der Kampf ausgelaugt hatte. Wo eben noch Angst und auch eine Spur Wut gewesen waren, war jetzt nichts mehr. Hylei neben ihm schien jedoch immer noch in ihrem Zorn zu vibrieren.
„Lasst uns einfach gehen.“ Auch ihre Stimme verriet ihre wütende Ungeduld.
„Nicht bevor wir nicht den Faden gekappt haben.“
Pethen hielt die Hand vor seine Gefährtin, weil er wenigstens hören wollte, was der Fremde vorzuschlagen hatte.
„Ich kann schnell was tun, damit er fürs erste verborgen ist, aber kappen musst du ihn selbst.“ Der Fremde wartete auf eine Reaktion, aber Pethen war zu verwirrt, um eine Entscheidung treffen zu können.
„Die Zeit rennt euch davon“, warf der Dürre wieder ein. „Die Tore werden bald geschlossen, selbst wenn die Priester nicht vor euch bei ihnen sind. Ihr müsst uns einfach glauben, dass wir nicht eure Feinde sind.“
„Warum wollt ihr uns helfen?“ Hylei konnte ihre Feindseligkeit nicht ablegen.
„Ihr habt dort hinten sechs Männer getötet und noch mehr verwundet. Sie sind euch seit Tagen, wenn nicht sogar Wochen auf den Fersen und du fragst sowas? Ihr könnt jede Hilfe gebrauche, die ihr kriegen könnt.“
„Lass gut sein. Genau deshalb fragen sie ja.“ Der Hagere schien der Besonnenere der beiden zu sein. „Es gibt viele Gründe, aus denen wir euch helfen wollen. Nicht der geringste ist sicherlich, dass ihr Hilfe benötigt. Aber wir wollen auch, dass ihr keine Unruhe mehr stiftet, denn so etwas, wie dieser Kampf, könnte unsere eigenen Pläne gefährden. Daher müsst ihr aus der Stadt raus.“
„Damit kann ich leben, Hylei.“ Pethen fing sich einen Schlag gegen die Schulter und einen bösen Blick ein und bemerkte, dass er ihren Namen genannt hatte.
„Ich bin Estron“, sagte der Hagere, der offensichtlich das Problem erkannt hatte. Er verbeugte sich leicht. „Wenn du mir erlaubst, dann werde ich dir zeigen, wie du den Faden kappen kannst.“
Pethen nickte, war trotzdem überrascht, als der Mann ihm an die Stirn fasste. Er wäre gerne vor der Hand und den Gefühlen, Gedanken und Ideen, die plötzlich in ihn drangen, zurückgeschreckt, konnte sich jedoch nicht bewegen. Bilder erschienen vor seinem inneren Auge von Magie und ihrer Verwendung, Begriffe, die ihn verstehen ließen, was in ihm vorging, Fähigkeiten, die er sich niemals vorgestellt hatte. Für Stunden stand er so da und versuchte all das Neue zu verarbeiten, bis er nur einen Augenblick später wieder in der Gasse stand und schwer Atmete. Der Hagere fing ihn auf, als ihm die Beine den Dienst verweigerten.
„Was haben sie mit ihm gemacht?“ Mit einer geschmeidigen Bewegung zog sie ihr Messer und hielt es Estron unter das Kinn. Aber genauso schnell umfasste die Hand des Fremden ihr Handgelenk und fixierte es wie in einem Schraubstock. Sie versuchte sich aus dem Griff zu befreien, aber ihre ersten Versuche waren vergeblich.
„Es geht ihm gleich wieder gut. Er muss nur die neuen Gedanken ordnen.“ Er richtete den schlaffen Körper wieder auf, bis Pethen sich von allein aufrecht halten konnte. Der junge Mann schüttelte den Kopf.
„Du weißt, wie du die Verbindung trennen kannst?“ Pethen nickte. „Dann tu es.“
Pethen ließ sich auf die Erde sinken. „Es ist in Ordnung.“ Ein kurzer Blick zu seiner Partnerin, die von ihrer Angriffshaltung in einer der Abwehr wechselte, das Messer jedoch nicht wieder in der Scheide verschwinden ließ, nachdem der Fremde ihre Hand entlassen hatte. Sie ließ keine Reaktion erkennen, außer dass sie die Hand sinken ließ.
Auf den Knien zu sitzen war nicht besonders bequem, aber nicht so kalt wie der Schneidersitz und Pethen würde auch nicht viel Zeit benötigen. Den Zauber, den er vollbringen musste, hatte er zwar noch nie gewirkt, aber das Wissen, dass der Hagere ihm geschenkt hatte, war wie eine frische, perfekte Erinnerung. Wenn er sich daran hielt, konnte er nichts falsch machen. Und das Ausführen von Anweisungen hatte er zur Genüge in der Magierzuflucht eingeübt, selbst wenn es ihm nie zu etwas nütze gewesen war.
Nachdem er in seiner Vorstellung die Magie auf diese ganz bestimmte Art gesammelt und um seinen Bauchnabel konzentriert hatte, zog er sie zusammen und sah den Faden, den er in letzter Zeit gar nicht mehr wahrgenommen hatte, wie ein Spinnweb davonwehen. Mit dem Ende der Arbeit rauschte ihm das Blut in den Kopf und er taumelte nach vorne. Fremde Hände fingen ihn zum zweiten Mal auf, er schüttelte sich jedoch und kam aus eigener Kraft wieder auf die Beine.
„Das fühlte sich ungewöhnlich an. Ein bisschen wie zu viel Bier.“ Sein Kopf war heiß, das Gefühl ließ jedoch langsam nach.
„Dann helfen wir euch jetzt noch raus“, sagte der Fremde und winkte vor ihren Gesichtern herum. Hylei wich vor der Hand zurück. Dann schnellte ihr Kopf plötzlich herum und sie studierte Pethens Gesicht, als hätte sie es noch nie gesehen. Pethen, der immer mehr auf seine andere Sicht vertraute, fiel erst durch ihr Verhalten auf, dass ihr Gesicht, welches er mit seinen Augen sah, nicht mehr mit dem übereinstimmte, das die Sicht ihm zeigte. Auch er begann sie von oben bis unten zu betrachten. Der Fremde hatte ihr Äußeres verändert, aber nicht ihre Körper, wenn das einen Sinn ergab. Er fasste an sein Gesicht und es fühlte sich genauso an, wie zuvor.
„Es ist nur ein kleines Trugbild. In drei Tagen vergeht es von selbst.“
Hyleis fremdes Gesicht sprach Bände, und man musste nicht ihre Gedanken lesen, um sie deuten zu können. Sie verbscheute es, dass man einen Zauber auf sie gelegt hatte. Sie verabscheute es, nicht einmal gefragt worden zu sein. Und vor allem verabscheute sie es, dass man ihr ungebeten etwas Gutes tat. Gleichzeitig war ein kleiner Teil von ihr Dankbar für die Hilfe, was sie zu verbergen suchte, sich jedoch in ihrem nun menschlicherem Gesicht besser zeigte als in ihrem eigenen.
„Wie können wir euch danken?“ übernahm Pethen den Gesprächsfaden.
„Bleibt am Leben. Lasst euch nicht schnappen. Lehrt euer Können anderen und helft ihnen, sich im Verborgenem zu halten, bis Magie wieder öffentlich verwendet werden kann.“
Pethen nickte, auch wenn er dabei fürchtete, ein Versprechen abzugeben, dass er niemals einhalten können würde.
„Geht jetzt. Möge Emaofhia über euch Wachen.“
Ohne zu zögern, drehten sie sich um und liefen in Richtung des östlichen Stadttors. Und die ganze Zeit über grübelte Pethen, wer Emaofhia sein mochte.
„Du weißt, dass er nicht über sie Wachen wird.“
„Das weiß ich. Aber er wird immer wieder einen Blick in ihre Richtung werfen. Das ist doch auch schon was, oder?“
„Vielleicht. Ich hoffe es für sie. Denn du hattest Recht: Sie können jede Hilfe gebrauchen, die sie bekommen können.“ Estron blickte Shaljel mit einem Lächeln an. „Der Wärmezauber war eine nette Idee.“ Shaljel antwortete mit einem Grinsen. Sie schlugen den Weg zurück zum Haus von Salvina und Greivano ein, wobei sie nicht versäumten, ein paar Umwege zu machen, um mögliche Verfolger in die Irre zu führen. „Wie lang wird der Zauber anhalten?“
„Ich hoffe bis die ersten Knospen sprießen. Sie haben einen harten Winter vor sich.“
„Das haben wir alle. Aber sag mir eins, Shaljel: Warum hast du diesen Zauber nicht auch auf meine Schüler gelegt?“
„Wieso? Das hättest du doch selber machen können?“ lachte Shajlel.
„Du weißt, dass ich die Magie meide.“
„Ach! Aber ein paar Fellfetzen konntest du zusammenzaubern? Du weißt einfach nicht, was du kannst.“
Estron schwieg. Shaljel sprach einen wunden Punkt an. Er war mit der Magie immer noch nicht vertraut, so dass ihm seine eigenen Möglichkeiten oft nicht in den Sinn kamen. Allerdings war er sich sicher, dass auch der Feen oft genug nicht an seine eigenen Fähigkeiten dachte und vor allem auch nicht an die Bedürfnisse anderer, die nicht über sie verfügten.
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